Kategorie: Seemannsgarn

  • An Bord der Brigg „Kraken“, 14. Tag im dritten Monat, Jahr 21 n.d.B.

    Die Kabine des Kapitäns an Bord der Brigg ist nicht nur größer als auf dem Toppsegelschoner – er hat zudem einen Vorraum und eine separate Schlafkajüte, in der seine Schwingkoje hängt. Einzig was fehlt sind die schwarzen, alptraumhaften Tentakel, die seine vormalige Kajüte geziert haben und vom dargaresischen Künstler Kyell stammen. Die an der Decke verlaufende Pinne, welche die Bewegungen des Steuerrades auf dem Oberdeck aufnimmt, stört es etwas – doch das kann man nicht ändern.

    Vor einer Woche sind die Umbauarbeiten an dem Schiff, der neuen „Kraken“ beendet worden und nun liegt sie, umgeben von einigen anderen Schiffen, am Kai von Port Libertania in der Hideaway Bay. Askir hatte die letzten Stunden die nach den Winterstürmen durch die ankommenden Schiffe übermittelten Nachrichten gesichtet, wobei vor allem die neuen Entwicklungen in Yddland seine Aufmerksamkeit banden. Es wird Zeit, dass er für die Fragen, die sich ihm dabei stellen, Antworten erhält. Ebenso über die aktuelle Situation in Dargaras, dem Land hinter dem immer löchrig werdenden Nebel, zu dem die „Knurrhahn“ vor einem Tag ausgelaufen ist.

    Ebenso hat sich die Annahme verdichtet, dass im letzten Jahr Niemand vom Blauen Drachen gerufen wurde. Zumindest Niemand, der bisher im Blauen Lager aktiv gewesen wäre. Offenbar hatten auch die anderen Drachen ihre üblichen Streiter nicht gerufen. Ein Umstand, der mehr Fragen aufwirft, als er Antwort geben würde. So bleibt nur die Spekulation, warum dies geschehen ist. Die schlimmste Befürchtung ist, dass es dem Täuscher in der ersten Drachenwelt gelungen ist die Drachen zu stürzen und seine Kreaturen ins Pantheon zu erheben. Doch es ist nicht Askirs Art sich in düsteren Gedanken zu verlieren. So blickt er hoffnungsvoll planend nach Vorne.

    „Vielleicht kommt irgendwann wieder der Zeitpunkt, an dem der Blaue Drachen wieder ruft. Alle Diejenigen, die den Wind der Freiheit atmen und das Glück hinter dem Horizont suchen. Eine Zeit, in der auch die „Kraken“-Crew mit alten und neuen Freunden streitet, feiert, kämpft, diskutiert und mit der Gier in den Augen und für die Freiheit dem Weg des Blauen folgt; das Lagerbanner voran schreitet, Shantys gesungen werden und man im „Durstigen Dolch“ mit einem Tortuga Libre anstößt. Aye, ich bin sicher, dass auch wieder solche Tage kommen werden.

    Seitdem ich das letzte Mal beim Fest der Drachen war, habe ich mir viele Gedanken darüber gemacht, wie der Blaue Weg zukünftig gelebt werden kann. Sowohl was er für mich selber bedeutet, nach den Jahren, in denen auch ich mich verändert und einen neuen Kurs eingeschlagen habe. Aber natürlich auch, welchen Kurs das Blaue Lager und damit die Blaulageristen im Gefüge des Drachenfestes einschlagen könnten und meiner Meinung nach sollten. Denn gerade jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um einen neuen Kurs zu bestimmen und die Segel entsprechend zu setzen.

    Es war eher Zufall, dass ich im Jahr 14 n.d.B. ein Diplomat des Blauen Lagers wurde. Zwei Jahre nach dem ersten Sieg des Blauen Drachen habe ich den damaligen Hochdiplomaten, den Chevalier, kennen und schätzen gelernt. Wenngleich er im Lager umstritten war und etliche Kapitäne ihn negativ bewerten, so war er ein Diplomat mit Visionen, an denen er mich teilhaben ließ. Seine Art ist vielen Blaulageristen aufgestoßen, doch er hat in seiner Zeit als Hochdiplomat klug und umsichtig agiert und viel für das Lager erreicht.

    Als ich Diplomat wurde hatte das Blaue Lager zwei Jahre zuvor den Sieg errungen. Es hatte sich mit dem Sieg als Lager, das auch im Wettkampf ernst zu nehmen ist und nicht auf eine Meute ständig betrunkener Piraten reduziert werden kann, bewiesen. Doch danach hatte das Lager versagt: es ist seiner Verantwortung im anschließenden Jahr die Herrschaft zu übernehmen nicht nachgekommen und hat auch seine Zusagen gegenüber anderen Lagern, im Besonderen dem Grauen Lager, gebrochen. Die versprochene Unterstützung für das Graue Lager als damals wichtigsten Bündnispartner im Jahr nach dem Sieg ist nicht erfolgt.

    Ein großer Vertrauensverlust, sowohl bei den Bündnispartnern als auch bei den anderen Lagern, war die Folge. Das war die Situation, in der ich Diplomat wurde. Sowohl die Bemühungen des Chevaliers als auch in den folgenden Jahren von mir war, dieses Vertrauen in das Blaue Lager wieder herzustellen. Es galt den anderen Lagern durch Worte und Taten zu zeigen, dass wir in der Lage und bereit sind aus begangenen Fehlern zu lernen. Dass wir zugesagte Versprechen einhalten und die Regeln des Wettkampfes beim Fest der Drachen in ihrem vollen Ausmaß anerkennen. Gleichzeitig war es aber immer oberstes Ziel, dass der Kupferne Drachen nicht als Sieger aus dem Wettkampf hervor geht.

    Die Einhaltung von Bündniszusagen gestaltete sich relativ einfach, wenngleich mit viel Zähneknirschen. Denn es gab aus dem ersten Siegerjahr noch eine Zusage an das Grüne Lager, welches in meinem ersten Jahr als Diplomat von der grünen Hochdiplomatin Juna Tunichtgut vehement eingefordert wurde. So vehement, dass ich sie gerne aus dem Lager geprügelt hätte, wenn der Chevalier ein entsprechendes Zeichen gegeben hätte. Doch wir haben uns an diese selbst auferlegten Ketten des Versprechens gehalten und den Grünen Drachen unterstützt. Zwei Jahre lang, wenn ich mich recht entsinne.

    Es war in den darauffolgenden Jahren vornehmlich unseren Diplomaten, die im Laufe der Zeit als „Blaufüchse“ zu einer Institution im Lager heranwuchsen, zu verdanken, dass wir wieder Vertrauen aufbauen konnten. Doch für den größten Beweis, dass wir den Regeln des Wettkampfs entsprechend im Jahr nach dem Sieg herrschen werden, brauchten wir einen zweiten Blauen Sieg. Das war es, worauf ich in den ganzen Jahren als Diplomat, davon ein Jahr als Hochdiplomat, hingearbeitet habe.

    Natürlich gab es auf diesem Weg Rückschläge, die uns vom eingeschlagenen Kurs abbrachten. So dass Kupfer im Jahr 14 oder 15 n.d.B. kurz vor einem Sieg stand, der vor allem durch das beherzte diplomatisch Eingreifen des Chevaliers als unseren Hochdiplomaten buchstäblich in letzter Sekunde verhindert werden konnte. Wir haben auch seltsame und unbequeme Entscheidungen treffen müssen, wobei der Vertrag mit dem Kupfernen Lager im Jahr 17 n.d.B., im Jahr vor unserem zweiten Sieg, sicher das diesbezüglich denkwürdigste Ereignis war. Von einem Geheimabkommen mit dem Silbernen Lager flankiert, um einen Kupfernen Sieg zu verhindern, hat es doch gezeigt, dass wir Blaulageristen bereit selbst undenkbare Abkommen einzuhalten.

    Der siegreiche Blaue Avatar und Libertania auf dem Weg zum Ritualkreis, Drachenfest 2018.

    Man kann dem Goldenen Lager nicht hoch genug anrechnen, dass sie im Jahr 18 n.d.B. nicht auf ihren Sieganspruch beharrten, sondern direkt von Beginn des Wettkampfes an uns unterstützen. Dass auch das Silberne Lager sich an unsere Seite stellte war ein Erfolg, der durch die beharrliche Diplomatie der vorhergehenden Jahre möglich war. Wir und damit der Blaue Drache haben gesiegt. Unter dem Ruf „Er ist der Kapitän, wir sind die Crew“ hat der Blaue Drache seine eigene Form der Herrschaft etabliert und damit den letzten Beweis erbracht, dass wir aus unseren Fehlern lernen und entsprechend verantwortungsvoll handeln können.

    Wir haben gesiegt. Wir haben uns bewiesen. Wir haben uns durch unser Handeln Respekt verschafft. Und Respekt ist die Grundlage von Allem.

    Im Kreis der Drachen hat man das Blaue Lager früher nicht respektiert: ständig betrunkene Piraten, die ihr Banner verkaufen und sich nicht dem Wettkampf stellen. Man mag anführen, dass es uns doch egal sein kann, was Andere über uns denken – aber letztendlich ist das nicht egal. Ich will nicht bemitleidet und ausgelacht werden. Ich will respektiert werden – und aus diesem Respekt, den andere Lager und ihre Streiter mir, den man dem Blauen Lager und Allen, die dort lagern und für den Blauen Drachen einstehen sowie dem Blauen Drachen selbst, gegenüber empfindet, kann mehr erwachsen.

    Indessen werden wir – wieder – respektiert. Wir sind nicht nur als Kameraden und Kameradinnen beim Feiern gern gesehen, sondern werden auch als Bündnispartner umworben. Man könnte sagen: Viele haben uns offenbar lieb. Wir sind die lieben Blaulageristen. Geliebt oder zumindest gemocht zu werden ist jedoch nicht ganz die Art von Respekt, die für mich zum Blauen Weg und zum Blauen Lager passt. Nicht die Art von Respekt, die ich mir für meine Person wünsche. Doch das ist die Art Respekt, die wir meiner Wahrnehmung nach derzeit genießen.

    Für mich war das Blaue Lager trotz unserer von Erfolg gekrönten Bemühungen der letzten Jahre immer der Ort, in dem sich gierige opportunistische Händler und freiheitsliebende pragmatische Glücksritterinnen treffen – der überwiegende Teil von ihnen mit nautischem Hintergrund. Vor allem spießbürgerliche Biedermeier, ehrbare Pfeffersäcke und tyrannische Adlige sollten uns nicht „lieb“ haben – sie sollen uns respektieren, weil sie uns und unsere verwegene und unabhängige Art zu leben in ihrem Innersten etwas bewundern. Aber besonders sollten sie uns respektieren, weil sie uns fürchten und wissen, zu was wir fähig sind.

    Jetzt, nachdem wir bewiesen haben, dass mit uns zu rechnen ist, und uns keine Fesseln von Zusagen und Absprachen und Verträgen mehr binden, ist es an der Zeit diese Art von Respekt einzufordern. Diese Art von Respekt zu erkämpfen, zu erlangen und zu gewinnen. Wir sind das Lager der Freiheit und der Gier. Das sollten wir wieder mehr leben und diesen Teil der Blauen Seele, die in Teilen verloren zu sein scheint, wiederfinden.

    Auf Initiative der „Kraken“-Crew ist auf dem letzten Fest der Drachen die „Muräne“ erwacht, der sich viele Crews und Blaulageristen angeschlossen haben. Getragen von dem Gedanken, dass die große Wiese in der Nacht kein Ort sein sollte, an dem die Orks auf Jagd gehen können, was sie wollen, während sich alle Anderen ängstlich in ihren Lagern verschanzen, wurde die Losung ausgegeben: „Die Nacht ist Blau!“. Das ist die Zeit, in der wir unsere Gier ausleben und außer unseren Verbündeten kann und soll Nachts Niemand mehr auf der Wiese sicher sein.

    Natürlich sollten wir weiterhin am Wettkampf teilnehmen – alleine weil wir nur so einen Sieg von Kupfer, unserem Erzfeind unter den Drachen und Lagern, verhindern können. Wir werden Bündnisse eingehen und derzeit schlägt mein Herz – das will ich nicht verhehlen-, der letzten Feste und ihrer dortigen Worte und Taten gedenkend, für das Goldene Lager. Aber diese Bündnisse sollten wir nicht schließen, weil wir so „lieb“ und „nett“ sind, sondern aus drei pragmatischen und opportunistischen Beweggründen:

    Wer unsere Unterstützung für einen Sieg haben möchte, darf nicht mit dem Kupfernen Drachen paktieren und muss so wie wir Alles tun, um einen Kupfernen Sieg zu verhindern. Auch ist es unabdingbar, dass wir nur die Drachen unterstützen können und werden, unter deren Herrschaft wir sicher sein können, dass wir unsere Freiheit und unseren Lebensstil ohne Einschränkungen weiter leben können. Denn es ist undenkbar einen Sieg zu unterstützen, der uns in Ketten legt.

    Der dritte Beweggrund jedoch sollte die Gier sein. Was haben wir davon? Und mit „wir“ meine ich sowohl die Blaulageristen als auch den Blauen Drachen selbst. Nicht nur die Blaulageristen, bestenfalls bis zum letzten Halsabschneider und zur letzten Matrosin, sollten überzeugt sein sich für einen anderen Drachen zu engagieren – auch der Blaue Drache selbst sollte wissen, warum sich die Seinen für einen anderen Drachenweg die Sohlen durchlaufen, die Köpfe zermartern und töten lassen.

    Uns in klingender Münze zu bezahlen, von denen dann die einzelne Person im Lager froh sein kann, wenn ein halbes Kupfer im eigenen Geldbeutel landet, befriedigt weder unsere Gier noch erschafft sie Begeisterung sich für ein anderes Lager einzusetzen. Denn unsere Gier ist nicht auf Gold und Geschmeide beschränkt und es gibt viele Wege Blaulageristen zu motivieren und für sich zu gewinnen. Eine Feier im Blauen Lager, ausgerichtet von einem anderen Lager, das unter anderem unsere Barden bezahlt, Tänzer und Tänzerinnen engagiert sowie für andere Kurzweil sorgt, wäre meiner Ansicht nach eine solche Möglichkeit.

    Eine Entwicklung der letzten Jahre, die wir ganz bewusst getroffen haben und ich auch weiterhin befürworte ist, dass wir weder uns noch anderen mit irgendwelchen Zusagen, Verträgen und Abkommen, die das Jahr überdauern und in die Zukunft gerichtet sind, Ketten und Fesseln anlegen. Daher würden solche Angebote unsere Gier nicht befriedigen, eher sogar unser freiheitliches Wesen beleidigen.

    Auch dem Blauen Drachen dürfte der Sinn weniger nach Gold, Münzen und Juwelen stehen, wenngleich ich das natürlich nicht mit Gewissheit sagen kann. Doch wenn ich ihm ein Angebot machen sollte, dann würde ich überlegen, ob man ihm bei einem Sieg nicht die Herrschaft über einen Teil der Stadt übergibt, wie zum Beispiel den Händlern und Tavernen. Eine Möglichkeit wäre auch, dass ein Drache für sich und sein Lager die Sklaverei ächtet sowie diese Ächtung in seinem Herrscherjahr für die gesamten Drachenlande inklusive aller Inseln gilt.

    Generell ist die Ächtung der Sklaverei in anderen Lagern ein Thema, auf das wir als Lager der Freiheit in den kommenden Jahren einen stärkeren Fokus legen könnten. Sowohl was die Wahl unserer Verbündeten angeht als auch der Inhalt und das Ziel unserer diplomatischen Bemühungen. Letztendlich kann man sagen, dass es für die nächsten Jahre genug zu tun gibt – auch ohne sich für einen weiteren Sieg des Blauen Drachen anderen Lagern anzubiedern. Diese Zeit sollte nun zu Ende sein, wenn es nach mir geht.

    So bleibt mir nur zu hoffen, dass – wenn der Blaue Drache uns noch einmal rufen sollte – das Lager bereit ist einen neuen Kurs zu setzen, um auf der Welle der Gier und mit dem stürmischen Wind der Freiheit in den Segeln unserer verloren geglaubten rauen Seele als Leitstern am Firmament folgend die Art von Respekt zu erlangen, die wir verdienen.“

    Nach diesen Worten, die er in sein persönliches Logbuch geschrieben hat, legt Askir die Feder zur Seite und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Er nimmt das Glas in die Hand und trinkt von dem weißen Portwein, den er aus Yddland exportiert und auch unter seinen Freunden und Bekannten schon viele Liebhaber gewonnen hat. Über Haven Island beginnt die Dämmerung, während der Kapitän der „Kraken“ seinen Erinnerungen nachhängt …

    Vor dem Tor des Blauen Lagers (mit der Flagge der „Kraken“) vor dem Marsch zur großen Schlacht, Drachenfest 2019

  • Freedom Keep, 12. Tag im ersten Monat, Jahr 21 n.B.

    Nur kurz hat Askir das Fenster geöffnet, um etwas frische Luft in sein Quartier im Turm von Freedom Keep zu lassen. Doch der Wintersturm, der Eis und Schnee in sich trägt, hat schon bald frostige Kälte in den Raum getragen. Im großen, jedoch einzige Kamin in dem Raum lodern die Flammen, doch vermögen sie die Kälte nicht zur Gänze zu vertreiben, welche selbst bei geschlossenen Fenstern durch die Wände kriecht. Schon seit Tagen umtost ein Sturm Haven Island, umweht die Gebäude von Port Libertania und zerrt an den Tauen der in der Hideaway Bay liegenden Schiffe.

    Ein neues Jahr hat begonnen und Askir denkt an das vergangene Jahr. Die Gemeinde auf der Insel ist durch die angeworbenen Siedler angewachsen. Viele der Siedler ehemalige Sklaven, welche durch die Crew der “Kraken” mittels Überfälle auf Küsten und die Schiffe von Sklavenhändlern befreit wurden. Aber auch Menschen, die dem Joch der Tyrannei entfliehen und auf einer Insel mit vielen Freiheiten neu anfangen wollten. Auch die Verlegung des Hauptkontors der “HandelsCompagnie Haven” in die Siedlung und dem Handel, auch mit Gütern zweifelhafter Herkunft, hat seinen Teil dazu beigetragen.

    Entsprechend hat das Leben in den Straßen und Gassen von Port Libertania, der in die Bucht hinein gebauten Siedlung, zugenommen. Durch Handwerker und Händler, Hafenarbeiter und Gastwirte, Huren und Beischläfer, Seeleute und Landlubber, Doktoren und Barbiere, Büttel und Diebe, Guanosammler und Bergleute, Fischer und Werftarbeiter und Einiges mehr. Auch wenn bei diesem Wetter keine Schiffe durch die Passage in die Bucht einfahren konnten war in der Stadt auch bei einem solchen Sturm, wie er in den vergangenen Tagen über die Insel fegt, für ausreichend Kurzweil gesorgt.

    Nach der Fahrt zu Beginn des letzten Jahres, die auf Grund von Johanns Dummheit erforderlich war und auf welcher die Crew von Gedron, Shaemus und Nanaschi begleitet wurde, war das vergangene Jahr ebenso seltsam weiter gegangen. Ein Jahr ohne den Ruf des Blauen zum Fest der Drachen oder nach Elitawana, ohne Jemanden von der Flotte Fortunas zu sehen – ohne überhaupt besondere Fahrten an neue und ferne Gestaden durchgeführt zu haben. Auch wenn die Zeit, in der man sich dem Aufbau von Haven Island und der Anwerbung neuer Siedler gewidmet hat, sinnvoll genutzt wurde, merkt Askir immer stärker wie seine innere Unruhe wächst.

    Askir nimmt sich eine Flasche Port, setzt sich in den Sessel vor dem Kamin und gießt sich ein. Während er trinkt blickt er in die Flammen, die im zugigen Kamin tanzen. Das Pfeifen der Windes um das Gemäuer von Freedom Keep erinnert ihn an eine schicksalhafte Fahrt mit der „Kraken“ im Herbst des vergangenen Jahres. An den wilden Herbststurm, der als graue Wand un aufhaltsam auf sie zurollte. An die Kreuzsee, welche sich durch die Winde bildete. An die Wellen, die stetig in die Höhe wuchsen. An die Strecktaue über Deck und die fest gelaschte Ladung.

    An Rahat, der mit ihm am Ruder stand, um die „Kraken“ auf Kurs zu halten – auf einen Kurs vor den Wellen. Wie Getriebene, in Angst vor einer quer herein kommenden Woge, welche das Schiff hätte umschlagen lassen. Der Bugspriet splitterte mit einem lauten Knall, der selbst auf dem Achterdeck zu hören war. Der Bug tauchte zu tief in die Wellen, die Segelfläche musste verringert werden. Schon erschall der Pfiff der Bootsfrau und ohne Zögern enterten die unerschrockenen Topgasten auf. An ein Reffen des Toppsegels war nicht zu denken, so hakten die Matrosen in der Rah das Segel einfach ab. Es löste sich reißend und flog befreit in die Dunkelheit des nächtlichen Sturms. Doch ein Schrei hallte zum Deck hinunter. Gero hatte sich mit einem Fuß in einem Tau verfangen. Gemeinsam mit dem Segel entschwand seine Gestalt in Wind und Wogen.

    Letztendlich hatten sie den Sturm überstanden. Leicht hätten sie alle dort im Sturm ihr feuchtes Grab finden können. Der Verlust eines Crewmitglieds war dagegen ein geringer Preis, den die unberechenbare See gefordert hatte – doch es schmerzt, dass es gerade Gero sein musste. Er war das erste Crewmitglied gewesen, das mit seinem Kapitän zum Fest der Drachen gesegelt war. Dort hatte sich der mutige Kämpfer in der Sturmflut und bei vielen nächtlichen Missionen ausgezeichnet, bevor er beim letzten Besuch dort an der Gründung der „Muräne“ beteiligt war und diese mit angeführt hatte.

    Überdies war Gero auch in der Mannschaft sehr beliebt gewesen und hat eine nur schwer zu füllende Lücke in der Crew hinterlassen. Entsprechend gedrückt war die Stimmung – trotz jeder berechtigten Erleichterung nicht selber von der See verschlungen worden zu sein – nach der Fahrt. Trotz aller Vergnügungen, die Port Libertania bereithält, ein weiterer Grund, dass die „Kraken“ baldigst wieder in See sticht, auf dass die Frauen und Männer der Crew auf andere Gedanken kommen.

    Doch noch hält das Wetter alle Schiffe in der Hideaway Bay fest und es scheint nicht so, als würde das Wetter bald aufklaren. Ärgerlich ist, dass bei diesem Sturm auch die Arbeiten in der Werft nicht fortgesetzt werden können. Dies betrifft vor allem das Schiff, dass von der „Kraken“-Crew im Spätherbst des letzten Jahres erbeutet wurde.

    Nihal hatte das andere Schiff von der Saling aus als Erste ausgemacht, als es mit dem Rumpf noch unter dem Horizont stand. Die „Kraken“ wechselte, erstmal zum Sondieren, auf einen neuen Kurs. Je schneller die „Kraken“ aufschloss, desto klarer zeichnete sich die Schnau-Brigg vor dem klaren Himmel ab. Dort war man nicht so aufmerksam, denn der Rumpf stand schon über der Kimm, als man auf der Brigg den Toppsegelschoner wahr nahm. Hektik brach auf Deck und in der Takelage aus, als man eiligst an Bord der Brigg mehr Tuch setzte und sich zur Flucht wandte.

    Damit wurde die Vermutung zur Gewissheit: es handelte sich um ein Handelsschiff und es war klar, wer hier Jäger und wer Beute war. Eine Handels-Brigg war erfahrungsgemäß nicht stark bewaffnet und besaß nur eine Mannschaft, die gerade groß genug war die Segel zu bedienen. Und wie sie bedient wurden ließ den Schluss zu, dass die Crew dort an Bord eher aus Händlern als aus gestandenen Seeleuten bestand. Die „Kraken“ holte immer weiter auf.

    Um seine Haut zu retten entschied der Kapitän der Brigg seine Fracht über Bord zu werfen. Zum Einen, um sein Schiff so leichter zu machen. Zum Anderen, weil er wohl die Hoffnung hatte, dass die „Kraken“ die Jagd beenden würde, um die Fracht zu retten. Askir hatte beobachtet, wie die erste Fracht von Bord geworfen wurde und sein Gesicht verdüsterte sich. „Setzt die Boote aus – und zwar schnell!“, tönte seine Stimme über das Schiff. In voller Fahrt wurden so die Beiboote ausgesetzt und nacheinander ihrem Schicksal überlassen.

    Im Kielwasser der Brigg und des Toppsegelschooners treibende Rettungsinseln für die Sklaven, von denen immer mehr in der See schwammen. Dies war die Fracht, die von der Mannschaft der Brigg über Bord geworfen wurde. Von Menschenhändlern, die nur ihre eigene Haut retten wollten. Doch als die Brigg versuchte durch eine Wende ihren Verfolgern zu entkommen und sich in dieser festfuhr, war die Jagd beendet, denn plötzlich war die „Kraken“ heran. Die Karronaden brüllten auf und Kartätschen fegten den Bereich an der Reling des Gegners frei. Nur einen schlecht bis gar nicht gezielten Schuss aus einer ihrer Kanonen konnte die Crew der Brigg abfeuern, bevor die Enterhaken flogen und die „Kraken“-Crew das Sklavenschiff enterte.

    Es dauerte nicht lange, bis die Sklavenhändler die Flagge strichen und ihre Waffen auf die Planken des Decks fielen. Sofort eilten einige Crewmitglieder unter Deck, um die Sklaven zu befreien. Die „Kraken“ sammelte achteraus die Boote und die schwimmenden Überlebenden ein. Alsbald war aus dem Deck der Brigg ein Platz geworden, wo die nunmehr befreiten Sklaven von der Dottoressa und Gwen versorgt und vom Smutje verpflegt wurden. Etliche knabberten pflichtschuldig und dankbar an Haferkeksen, während ihre von Hass erfüllten Augen auf ihre Peiniger gerichtet waren.

    Etliche von Ihnen hätten gerne gesehen, wie die Sklavenhändler an der Rah aufgeknüpft worden wären. Doch Askir hatte anders entschieden: Er ließ die kleinste Schaluppe aussetzen, gab Lizzy einige Anweisungen und einige Zeit später wurden die Menschenhändler in das Boot getrieben. Sie fluchten und flehten, protestierten und baten, doch als die zwei Schiffe die Segel setzten blieben sie immer weiter zurück. Währenddessen meldete Lizzy dem Kapitän, dass, wie befohlen, der den Ausgesetzten mitgegebene Verpflegungskorb neben einer kleinen Flasche Wasser nur einen Holzblock (zur Vortäuschung einer ausreichenden Verpflegung) enthält – und ein scharfes Messer. Zudem schien es ihr, als hätte das kleine Boot dringend kalfatert werden müssen.

    Die beiden Schiffe nahmen Kurs auf Haven Island. Dort konnten die Sklaven als freie Menschen ein neues Leben anfangen, sich eine neue Existenz aufbauen, vielleicht sogar auf einem Schiff anheuern. Askir war in die Kapitänskajüte gegangen, um die Karten und das Logbuch der Brigg zu studieren. Sie hatte schon etliche Fahrten mit menschlicher Fracht hinter sich und an viel Leid ihren Anteil gehabt. Eine üble Karriere, die nun ihr Ende gefunden hatte. Und der Kapitän hatte schon eine Idee, wie das Schiff in Zukunft für bessere Taten zu nutzen sei.

    Gemeinsam mit dem Schiffszimmermann begutachtete er das Schiff, stieg in den Rumpf hinab und kletterte zur Saling hinauf. Wie die Sklavenhändler bewiesen hatten war die Brigg mit einer recht kleinen Crew zu segeln, so dass sie Platz für einhundert Sklaven gehabt hatten. Zu viele Seelen für einen Transport auf der „Kraken“, denn schon bei einigen der letzten Befreiungen von Sklaven war es auf der „Kraken“ sehr eng geworden. Vor allem, wenn das Sklavenschiff so schwer beschädigt war, dass es den Weg nach Haven Island nicht mehr antreten konnte. Bei einem Überfall auf eine Küste hatten sie sogar Sklaven am Strand zurück lassen müssen. Dass die Befreiten tagelang neben dem Toppsegelschoner her schwimmen erschien keine sinnvolle Lösung zu sein.

    Auch mussten sich die Matrosen im Bauch der „Kraken“ die Hängematten teilen. Nur die Freiwache hatte ihre persönlichen Schlafgelegenheiten. Es war so eng im Rumpf des Toppsegelschooners, dass daher zwei Wachen gegangen werden mussten. Es muss nicht erwähnt werden, dass dementsprechend wenige Platz für Güter und Ausrüstung verblieb, was sich negativ auf die Handelsmöglichkeiten und die Zeit, in der man auf hoher See bleiben konnte, auswirkt. So war es kein Wunder, dass sich Askir schon länger mit dem Gedanken nach einem größeren Schiff trug.

    Doch bloß keine Schiffstypen wie beispielsweise eine Galeone oder eine Fregatte, wie sie mehrere Crews aus dem Blauen Lager nutzten. Schiffe, die als reguläre Kriegs- und Kaperschiffe über dreihundert Besatzungsmitglieder benötigen. Dreihundert Besatzungsmitglieder, die bezahlt und verpflegt werden müssen. Je größer die Mannschaft, desto lohnender muss auch eine Prise sein, damit jedes Crewmitglied nicht nur ein paar Heller als Prisengeld erhält. Schnell ist man dann gezwungen entsprechend große und meist schwer bewaffnete Schiffe anzugreifen, bei denen das Risiko von Tod und Versenkung höher ist als der Wert der Beute es ratsam erscheinen lässt. Auch die Auffälligkeit auf Grund der Größe des Schiffes und der höhere Tiefgang, durch den man nicht mehr in jede versteckte Bucht einlaufen kann, spricht gegen ein Schiff von der Größe einer Galeone oder Fregatte. Aber diese Brigg schien genau die richtige Größe zu haben.

    Ausreichend für den Transport von Personen und größeren Mengen an Gütern, wobei sie selbst dabei noch mehr Platz für die Crew bietet als der Toppsegelschoner. Doch so klein, dass sie mit wenigen Seeleuten in der Takelage gesegelt werden kann und insgesamt eine Crew von etwa fünfzig Personen ausreichen sollte, um alle ihr zugedachten Aufgaben anzugehen. Der Tiefgang war nur wenig größer als die der „Kraken“. Sie mag nicht so hart an den Wind gehen können wie der Toppsegelschoner, doch fängt die Brigg mit ihrer größeren Segelfläche mehr Wind ein und gerade bei frischem Wind in den oberen Luftschichten ist sie von Vorteil.

    Bald schon nach ihrer Ankunft auf Haven Island wurde daher die Brigg in die Werft von Port Libertania verbracht. Askir hatte etliche Veränderungen und Umbauten vorgesehen, bevor das Schiff wieder in See stechen soll. Als Erstes wurden alle Ketten und Vorrichtungen zum Transport von Sklaven entfernt, denn das wird auf keinen Fall mehr benötigt. Zu den weiteren Umbauten zählten unter anderem die Errichtung eines Raumes für Madame Méduse und ihre Kuriositäten im Unterdeck, einige doppelte Wände für den Schmuggel von Waren oder Personen sowie neue Standorte für Werkzeug, das unter der Aufsicht von Miss Kabumm Schnürstiefel stehen wird. Veränderungen, die auf Grund der Kosten zu einigen Radierungen in den Büchern der HandelsCompagnie Haven geführt haben.

    Derzeit liegt die Brigg an einem Kai von Port Libertania und wartet auf besseres Wetter, denn erst dann kann die die restliche Ausrüstung erfolgen und fertig gestellt werden. Alles steht in den Lagerhäusern der Werft bereit, doch ein Verladen ist bei den Temperaturen, der Feuchtigkeit und dem Wind nicht angeraten. Nach des Kapitäns Schätzung wird es noch einige Wochen dauern, bis der Tag gekommen ist, an dem gleichzeitig die Brigg auf den Namen „Kraken“ getauft wird und die bisherige „Kraken“ einen neuen Namen erhält.

    Was das für ein Namen sein wird, den der Topsegelschooner, der fortan als Begleitschiff und als Schiff für besondere Missionen mit einem Teil der „Kraken“-Crew dienen wird, erhalten soll weiß Askir jedoch noch nicht. Doch er hat sich überlegt Skua zu fragen, denn die Shantyma’am der „Kraken“ schien auf spontane und kreative Einfälle spezialisiert zu sein. Meistens waren diese sogar zu gebrauchen.

    Askir nimmt noch einen weitere Schluck seines Portweins, bevor er sich aus seinem Sessel am Kamin erhebt und an seinen Schreibtisch hinüber geht. Bald schon sitzt er an den Papieren, die sich auf dem Tisch stapeln. Ausrüstungslisten, Bauvorhaben in Port Libertania, Pläne zur Sprengung eines Felsens im Bereich der Graveyard Rocks und Einiges mehr. Ausreichend für etliche Stunden Arbeit. Arbeit, die in Askir die Sehnsucht nach der Weite des Meeres nur noch steigert.

  • Nur das dunkle Blau über der Kimm zeugt noch von der untergegangenen Sonne. Müde reibt sich der Kapitän die Augen und dreht seinen Becher mit Portwein zwischen den Fingern. In seinem Raum in Freedom Keep aus blickt er auf die See. Viele Schritt unter der Feste Freedom Keep liegt die „Kraken“ – bereit in den nächsten Tagen zu den Dracheninseln aus zulaufen. Doch noch ist er in Gedanken bei den Ereignissen der letzten Tage, in denen der blaue Drache ihn wieder einmal nach Elitawana gerufen hat.

    Selten zuvor waren diese Tage so anstrengend gewesen – und selten zuvor war er mit einem so guten Gefühl aus Elitawana zurück gekehrt. Nicht nur, weil immer mehr Blaue dem Ruf ihres Drachen folgen, sondern auch, weil sich dieser Aufenthalt endlich nach einem Sieg angefühlt hat und die Hoffnung, den Hexer niederringen zu können, nicht mehr nur ein spärlicher Funke ist, sondern eine warme Glut. Der Kapitän der „Kraken“ nimmt einen Schluck Portwein, bevor er sich seinem schweren Schreibtisch zuwendet und sich in den Ohrensessel fallen lässt. Er blickt auf sein persönliches Logbuch und seufzt. Dieses Mal wird es wohl wirklich ein langer Beitrag werden, den er niederschreiben muss. Viel ist geschehen und viel wurde erreicht.

    Elitawana und der Tempel sind auch fünfzehn Monate nach unserem letzten Besuch nicht gefallen und nach den letzten Tagen habe ich mehr Hoffnung, dass es auch nicht fallen wird. Weitaus mehr Hoffnung, als ich nach meinem letzten Aufenthalt dort hatte. Sicher war es auch ein Verdienst der Anhänger des Blauen Drachen, denn von Anfang an haben wir uns bemüht alle Reisenden aus der zweiten Drachenwelt zu koordinieren. So fanden fast alle Besprechungen bei uns im Lager der „Kraken“ und unserer Freunde – unter anderem von der „Caida de Sol“ und der „La Vierge“ – statt.

    Bei diesen Besprechungen zeigte sich die immer bessere Zusammenarbeit aller Drachenwege für ein gemeinsames Ziel. Hier führten wir soweit möglich alle Aufgaben zusammen und verteilten die Zuständigkeiten. Gegenüber unserem letzten Aufenthalt eine Verbesserung, wenngleich noch immer einige Reisende nicht bereit zu sein scheinen offen über Aufgaben zu reden.

    Dazu zählte die Heilung einiger Hohepriesters des Tempels von Flüchen, zumeist des Hexers. So hatte die silberne Hohepriesterin einen Schatten in sich, welcher wohl aus der zweiten Drachenwelt hergebracht wurde. Der grüne Hohepriester verwandelte sich zusehends in einen Baum. Der kupferne Hohepriester war lethargisch. Bei der Heilung von Letzterem, bei dem Vertreter aller Drachen zu ihm sprachen und sagten, warum er wieder aktiv werden müsse, habe ich den blauen Weg vertreten. Ich habe ihn daran erinnert, dass auch eine auf Freiwilligkeit begründete Crew an Bord eines Schiffes einen Kapitän und damit eine Ordnung braucht. Elitawana braucht einen Käpt’n. Doch ich glaube, dass die Rede des Vertreters des Wandels den Ausschlag gegeben hat – sinngemäß: „Ihr solltet aktiv werden und etwas machen, wenn ihr nicht wollt, dass Jemand wie ich bald auf Eurem Thron sitzt.“.

    Auch wenn es (noch) keinen Blauen Hohepriester gibt, hatten auch wir Blaue eine besondere Aufgabe. Denn nach der ersten Begegnung mit dem Volk aus Karastja bei unserer letzten Reise waren es Vertreter dieses Volkes, die sich an uns wandten. Ihre Hauptstadt war vom Hexer verflucht: nur noch die Kinder waren in der Stadt und die Erwachsenen konnten nicht hinein. Einzig die Zarin am Schrein des Blauen Drachen harrte noch in der Stadt auf. Eine Aufgabe, die wir mit einem Ritual, in dem wir die Saat der Freiheit in die Herzen und Köpfe der Kinder in der Stadt pflanzten, lösten. An dem Platz, an dem Vincenca erschossen wurde, erzählten die Blauen eine Geschichte und viele Kinder aus den verschiedenen Lagern waren involviert. So vermochten sich die Kinder Karastjas selbst zu befreien. Doch wir haben nicht nur Menschen aus der ersten Drachenwelt die Freiheit geschenkt. Wir haben ihnen auch die Macht und den Weg des Blauen Drachen gezeigt. Fortan wird Karastja wohl das erste Land des Blauen Drachen in der ersten Drachenwelt sein. Ich habe die Hoffnung, dass dadurch der Blaue Drache auch schneller erwachen wird.

    Ebenfalls einen Fluch abbekommen hatten die hochrangigen Magier und damit die Herrscherkaste von Norat. Die Norathi hatten ihren Zugang zur Magie verloren und Vielen schienen nicht zu begreifen, dass damit die Gefahr besteht, dass dieses Land sich dem Hexer anschließt, um seine Magie zurück zu erhalten. Unbegreiflich, dass die Vertreter des schwarzen Weges dieses Problem so lange ignoriert haben oder immer Wichtigeres zu tun hatten. Es sollten doch genug Reisende eines Weges da sein, dass sich nicht nur vier Leute um alle Probleme dieses Weges kümmern müssen. Doch bei Schwarz schien es mir, als wäre genau das der Fall. Oder sie sind so organisiert, dass sie nur eine Aufgabe nacheinander angehen und abarbeiten können. Erst in förmlich letzter Sekunde wurde der Zugang der Magie für die Noratis wiederhergestellt und der Verlust des Landes für die Drachen verhindert.

    Die Verfemten, die sich als die wahren Drachenwege bezeichnen, trieben sich natürlich auch überall herum. Noch immer ist es mir unbegreiflich, warum wir Reisende zulassen, dass sie sich frei unter uns bewegen können und nur bei Schlachten angegriffen werden. So wie die Schwarze, die mit einem Wächter einen Reisenden wie einen Hund hinter sich herzog. Er war gefesselt, hatte eine Leine um und offenbar unter dem Einfluss eines Beeinflussungszaubers. Sie waren schon bis in die Taverne gekommen, bis sie an unserem Tisch vorbei kamen. Die folgende Diskussion beendete ich mit einem Kehlenschnitt beim Wächter und wenig später hatten wir den armen Mann, einem Reisenden aus dem grünen Lager, befreit. Auch Dank Lady Marthiana, die den Zauber brechen konnte.

    Der verfemte Silberne hatte zudem Steckbriefe verteilt und auf einige Reisende waren Kopfgelder ausgesetzt. Unter anderem auf mich, weshalb ich die meiste Zeit nicht mehr alleine unterwegs war. Doch ich wusste mich durch Skua und Rahat immer gut geschützt. Leider erging es Schwester Lucretia, die auf einem Steckbrief wegen Hochverrat gesucht wurde, nicht so gut. Sie fiel den Verfemten in die Hände und wurde auf grausamste Weise ermordet. Wenngleich aus dem weißen Lager und Ceridin ist ihr Tod ein Verlust für alle Streiter des Drachen. Ich trauere um sie. Das Gedenken an Vincenca Verani und Schwester Lucretia muss uns Ansporn sein.

    Doch für den Hexer selbst mögen diese Dinge von geringerem Interesse gewesen sein, denn er hatte vor sich einen Sohn, einen Bruder von Aurora zu erschaffen. Ein Ansinnen, das wir leider nicht verhindern konnten. Von langer Hand geplant hatte der Hexer schon die Frau, welche mit Aurora schwanger war, verflucht und ihr einen dunklen Zwilling erschaffen. Doch Arina, die damalige Stimme der Zeit hat dies entdeckt und einer Hebamme aufgetragen diesen dunklen Zwilling zu entfernen – was dies auch tat. Der Hexer fand es heraus, als er die Mutter aufsuchte und diese ihm nur von einem Kind erzählte. In Karastja, dem Geburtsland von Aurora und nun das Land des Blauen Drachen. Er stahl Auroras die Mutterliebe und irgendwann fand er auch die Hebamme und die Urne mit den Überresten des Bruders, welche sich auf Anweisung von Arina verborgen hielten.

    Im Kehrer des Tempels fand er einen willigen Körper, um seinen Sohn wieder zu erschaffen. Wie er es vollbracht hat weiß ich nicht, jedoch gab es einige Rituale seiner Anhänger in Elitawana. Es mag sein, dass diese damit in Zusammenhang stehen, zumal sich nie schnell genug willige Kämpfer zusammen fanden, um diese Rituale zu stören. Auch hatte ich mit der Hebamme, die in Elitawana auftauchte, keinen Kontakt, um sagen zu können, ob man von ihr hat mehr erfahren können. Wie dem auch sei: Er hat nun nicht nur Aurora, sondern auch ihren Bruder. Licht und Dunkelheit.

    Doch obwohl wir dies nicht verhindern konnten, so habe ich mehr Hoffnung als noch in den Jahren und nach den Reisen zuvor. Denn wir vermochten durch Öffnung eines Eisportals den Schneeläufer zu beschwören, der einen Seelensplitter von Aurora in sich trug und beschützte. Es war vor allem Thorgurd und seinen Nordmännern zu verdanken, dass diese Kreatur so schnell niedergerungen wurde. So konnten wir den zweiten Seelensplitter für uns sicherstellen und nur noch einer ist verschollen.

    Skua und ich begleiteten als Teil der Eskorte die Seelenwächterin aus dem Kreis der Tarquun mit dem Seelensplitter in den Tempel. Ich sollte jedoch solche schnellen Läufe zum Tempel nicht zur Gewohnheit werden lassen – es war ja schon das zweite Mal. Nachdem der Splitter im Tempel deponiert war kam die Seelenwächterin hinaus, griff ihre Waffe und sagte, sinngemäß: „Jetzt kann ich endlich Schädel spalten!“. Gemeinsam mit ihr verließen wir den Tempel und schritten der Schlacht entgegen.

    Weit kamen wir nicht, bevor wir von Anhängern des falschen Drachenglaubens gestellt wurden. Die Seelenwächterin stellte sich einem der Krieger, ich griff von der Seite an. Wenig später lag ich, von einem Kriegshammer mehrfach getroffen am Boden und während ich in Ohnmacht fiel klang mir noch das Gebrüll „Du greifst nicht in ein Ehrenduell ein!“ in den Ohren. Ehrenduell – wie ich das hasse. Wer wegen Ehre kämpfen will, der kann sich gerne beim ersten Morgengrauen an einem alten Gemäuer treffen – aber hier gegen den Hexer kämpfen wir um den Sieg. Nur einen Tag vorher konnte ich beobachten, wie wegen eines solchen Zweikampfes vor der Schlachtreihe selbige zerfiel, da gut zwanzig Kämpfer nicht mehr weiter vorrücken konnten. Wenn Ihr Siegen wollt, Ihr Hunde, dann kämpft gefälligst entsprechend!

    Doch es gibt noch einen weiteren Grund für Hoffnung, den wir den Truppen aus Krakant zu verdanken haben. Mit einem Flammenwerfer haben sie tatsächlich den Hexer in Brand gesteckt und zu Boden gezwungen. Es war sein Sohn, der kommen und ihm Kraft schenken musste, damit er die Flammen an seinem Körper ersticken und ihnen entfliehen konnte. Schien der Hexer bisher immer übermächtig und vor jeder Waffe gefeit ist nun klar: Er ist verletzbar. Und was man verletzten kann, das kann man auch töten!

    Aus diesem Grund sehe ich der Zukunft der ersten Drachenwelt hoffnungsvoller entgegen als noch vor einem Jahr. Und wenn der Blaue Drachen wieder der Meinung sein sollte, dass ich bei der Bekämpfung des Hexers hilfreich sein kann, werde ich seinem Ruf folgen. Nein – mehr noch: Ich hoffe auf diesen Ruf, denn das mit dem Hexer sehe ich nach so vielen Jahren als etwas Persönliches an.

    Doch zuerst steht die Fahrt zur Dracheninsel an und ich freue mich schon darauf wieder gemeinsam mit meinen Freunden von „Fortunas Flotte“ zu segeln.


    Kapitän Askir von der See legt den Federkiel beiseite und lehnt sich in seinem Ohrensessel zurück. Er liest sich den Text nochmal durch, während er sich noch ein Glas weißen Portwein genehmigt. Überlegt, ob alles Wesentliche in der Eintragung in seinem privaten Logbuch enthalten ist, bevor er mit einem zufriedenen Nicken das Buch schließt. Bis zum nächsten Eintrag – dann voraussichtlich aber auf hoher See …


    Fotos von Karsten Zingsheim, dem Fotofänger


    Fotos von Andreas Dude (Webseite)

  • Freedom Keep, Jahr 1 nach der Entdeckung von Haven Island

    Die Kerzen flackern schwach im Wind, der durch die geöffneten Fenster des Captain’s Quarters im Turm von Freedom Keep hinein weht. Wenn man hinaus schaut auf die See kann man hinter der Kimm das schwache Leuchten des anbrechenden Tages erkennen.

    Der Earl of Freedom Keep sitzt in einem Sessel und dreht gedankenverloren ein Glas mit weißem Port in seiner Hand. Von einem Alptraum geplagt war er schweißgebadet früh aufgewacht. Nur mit einem Hemd und einer Hose bekleidet hängt er nun düsteren Gedanken nach und betrachtet die Schatten, die an den Wänden tanzen.

    Wie Schatten erscheinen Bruchstücke des Traumes vor seinem inneren Auge. Von einer silbernen Priesterin, liegend in ihrem eigenen Blut. Von einer Stimme der Zeit, angekettet in einem finsteren Verlies. Von Elitawana, welches ein Raub von Zerstörung und Flammen wurde. Und über Allem das lachende Gesicht des Täuschers, des Hexers.

    Das zweite Jahr des Blauen ist ein guter Grund, um sich zu freuen und der Lebenslust in vollen Zügen zu frönen. Aber immer wieder legt sich die Erinnerung an die erste Drachenwelt vornehmlich in seinen Träumen über Askirs Stimmung wie ein Leichentuch.

    Die Erinnerung an die Kreaturen der Niederhöllen, welche Inat Laron mit sich nahmen. An die widerwärtigen Götter aus alter Zeit, die zurück kehrten. An den Tod der Kaiserin und den Untergang von Weltenwacht. An das öffentliche Auftreten des Hexers und die Erschaffung der Kreaturen, welche die schlechtesten und lieblosen Aspekte der Drachen vertreten.

    Der Kapitän beugt sich vor, nimmt ein Blatt Papier und einen Stift, um seine Gedanken in seinem persönlichen Logbuch nieder zu schreiben:

    Bald jährt sich meine letzte Reise in die erste Drachenwelt. Immer wieder stelle ich mir die Frage, ob die Drachen uns ein weiteres Mal dorthin rufen werden oder die erste Drachenwelt für die Drachen indessen verloren ist. Ob der Täuscher diese Welt erobert hat und ob dies auch Auswirkungen auf unsere Welt haben wird.

    Gerne würde ich mit Mishra nochmal darüber reden. Sollte mich der Blaue noch einmal nach Elitawana senden wird es sicher einer meiner ersten Vorhaben sein: Mich gemeinsam mit Mishra und Sahar von der goldenen Akademie zusammen setzen. Wir hatten erst begonnen eine Theorie über den Hexer und seine Drachengötzen zu erstellen. Noch lange sind wir nicht zu einem Abschluss gekommen.

    Seine Drachengötzen mögen die Eigenschaften und Aspekte haben, welche auch die uns bekannten Drachen besitzen. Doch was ihnen fehlt ist die Liebe. Alles, was Liebe erfordert, ist in ihren Aspekten nicht anzutreffen. Weil auch der Hexer keine Liebe kennt, so meine Mutmaßung. Wenn er einer der alten Götter ist oder von ihnen abstammt, so ist dies nicht verwunderlich.

    Meiner Ansicht nach ist es erforderlich den Hintergrund und damit seine Schwächen zu kennen, um ihn zu vernichten. Diesen Blender und Tyrannen. Vielleicht ist unsere Liebe zu den Drachen und zu den Dingen einer der Schlüssel. Das gilt es zu ergründen und steht ganz oben auf meiner Agenda.

    Es gilt den Täuscher zu vernichten, damit man sich ohne solche scheinbar übermächtige Bedrohungen anderen Problemen der ersten Drachenwelt widmen kann. Dazu zählt die Stärkung der Freien. Jener Erstdrachenweltler, die vom Geist des Blauen beseelt, begonnen haben für die Freiheit zu streiten.

    Bei meiner vorletzten Reise nach Elitawana bin ich ihnen begegnet und mich lange mit Lydia unterhalten. Zudem war ich in einem Traum bei einer ihrer Besprechungen zugegen, um Sklaven in den Landen des Schwarzen Drachen zu befreien. Ein löbliches Bestreben, das jederzeit meine Unterstützung haben wird.

    Aber eine Webleine nach der Anderen. Zuerst muss der Täuscher vernichtet werden. Wir müssen ihn schwächen. Dafür sehe ich zwei Wege: die Befreiuung von Aurora, der Stimme der Zeit, und die Erweckung der Drachen, die sich derzeit noch im Schlaf befinden.

    Das Erste ist eine Aufgabe, der sich die Blauen schon letztes Mal gewidmet haben. Leider konnten wir den letzten Willen der früheren Stimme der Zeit nicht erfüllen, was aber nicht bedeutet, dass wir aufgeben werden. Zumindest ich denke so und ich hoffe, dass auch die anderen Blauen es so sehen. Aurora die Freiheit zu geben ist auch eine ureigene Aufgabe im Sinne des Blauen.

    Als Gegenpol zu allen Drachen, die in der ersten Drachenwelt schon erwacht sind, hat der Täuscher die Drachengötzen erschaffen. Sie haben offenbar starke Gegner. Doch es gibt, wenn ich mich an das Gespräch mit dem Bildhauer der Drachenstele recht entsinne, noch drei Drachen, die schlafen und erst im Erwachen begriffen sind: der weiße Drache, der blaue Drache und der Drache des Wandels.

    Die Blauen haben es schon geschafft, dass der Blaue im Aufwachen begriffen ist. Ich weiß nicht, wie lange Drachen zum Aufwachen so brauchen, aber gibt es nicht genug Priester und Gläubige, die zumindest versuchen sollten ihn schneller aus der Koje zu bekommen? Die Hilfe dieser drei Drachen könnten wir, besonders wenn der Täuscher ein alter Gott ist, gut gebrauchen.

    Mögen wir hoffen, dass Elitawana noch nicht gefallen ist und wir noch eine Chance haben die Gefahr aus der ersten Drachenwelt zu bannen. Für die Drachen. Und für uns.

    Askir legt den Griffel beiseite und blickt vom Papier auf. Er ist sich bewusst, dass bei der Erweckung der Drachen die erste Hürde die erforderliche Überzeugungsarbeit bei den Anhängern des Wandels sein wird. Viele von ihnen wehren sich noch immer gegen die Vorstellung, dass der Wandel einen Drachen hat.

    Der Kapitän greift sein Rumglas und nimmt einen Schluck. Aber was soll man sich Gedanken machen, bevor man vor dieser Herausforderung steht? Jetzt gilt es nur zu warten und zu hoffen …

  • Besorgt blickt Askir von der Brücke seines Schiffes nach achtern, von wo die Brigg schon mit bloßem Auge gut erkennbar ist. Unter vollen Segeln hält sie sich schon seit Stunden im Kielwasser der Kraken. Seit gestern schon verfolgt sie den kleinen Topsegelschooner. Gestern Abend lag sie noch ein gute Stück achteraus, doch über Nacht war der Wind eingeschlafen, so dass beide Schiffe hilflos in der Dünung dümpelten. Als der Wind in den frühen Morgenstunden wieder auffrischte waren es die oberen Segel der Brigg, welche den Wind zuerst einfingen. So konnte der Verfolger ein gutes Stück aufholen, bevor die Brise auch die Segel der Kraken füllte.

    Indessen blieb der Abstand zwischen den Schiffen gleich, aber wenn die Verfolgung sich auch über die nächste Nacht zieht, dann würde die größere, stärker bewaffnete und bemannte Brigg den Schooner einholen und wohl auch erobern, wenn nicht gar versenken. Die Kraken könnte dem rahgetakelten Zweimaster bei einem Kurs am Wind problemlos davon laufen, doch derzeit liefen sie am raumen Wind und eine Änderung des Kurses hätte die Kraken direkt vor die Kanonen des Gegners laufen lassen.

    Derzeit befindet sich die Kraken noch außerhalb der Reichweite der 9 Pfund Kanonen, mit denen auf einem Schiff wie der Brigg zu rechnen ist. Selbst wenn sie als Jagdkanonen eingesetzt werden, dürfe ein Treffer auf der Entfernung nicht nur einen guten Kanonier, sondern auch ein großes Quentchen Glück erfordern. Auch eine Breitseite wird die Brigg erst riskieren, wenn sie auf Kernschussreichweite heran gekommen ist, denn dafür muss sie beidrehen, was die Fahrt aus dem Schiff nehmen würde.

    Das gibt der Kraken und ihrer Crew noch einige Stunden Zeit. Wenn nicht einem der Schiffe ein Spiere reißt oder ein Mast bricht, dann sicher bis Einbruch der Dunkelheit. Wenn der Wind jedoch wieder einschläft dürfte die Entscheidung am nächsten Morgen fallen – und wohl nicht so ausgehen, wie Askir es sich wünschen würde.

    Der Kapitän blickt hinunter aufs überfüllte Deck. Er könnte die Kraken leichter und damit schneller machen, wenn er die Fracht über Bord werfen würde. Doch abgesehen davon, dass er generell an Fracht hängt, besteht sie dieses Mal aus etwa fünfzig Sklaven. Männer, Frauen und Kinder, die still und verängstigt versuchen der Crew nicht all zu sehr im Weg zu sein, was ihnen nur leidlich gelingt. Sklavenschiffer hätten in dieser Situation keine Skrupel gehabt die Sklaven über Bord zu werfen und sich möglichst schnell aus dem Staub zu machen.

    Askir presst die Lippen aufeinander und wendet sich wieder dem Verfolger zu. Das Fernrohr am Auge kann er erkennen, dass sie auf der Brigg jetzt auch begonnen haben Wassereimer die Wanten hinauf zu schleppen, um die Segel mit Meerwasser zu begießen. Eine Maßnahme, die auf der Kraken schon seit etwas über ein Glasen ausgeführt wurde. Das Wasser setzt die Poren im Segelstoff zu, so dass weniger Wind durch das Segel bläst und man gut einen Knoten mehr Geschwindigkeit heraus holen kann.

    Hinter dem Heck des Schooners tanzt die kleine Barkasse auf den Wellen. Das Beiboot war schon vor dem Angriff auf das Sklavenschiff aussenbords verbracht worden, wo es nun nachgeschleppt wurde. Seitdem war das Schiff kampfbereit und das Feuer in der Kombüse gelöscht. Nach einem weiteren Blick auf die Brigg befiehlt Askir, dass das Feuer für zwei Glasen entzündet werden soll, damit die Crew nach Stationen backen und banken kann. Es gibt keinen Grund, warum die Frauen und Männer an Bord der Kraken mit leerem Magen kämpfen sollten.

    Wie er jedoch die befreiten Sklaven an Bord verpflegen soll ist ihm ein Rätsel. Der Ort, an dem er sie an Land entlassen wollte, liegt fast genau in die entgegengesetzte Richtung ihres derzeitigen Kurses. Eine Wende, um den ursprünglich geplanten Kurs einzuschlagen und zudem bei raumen Wind der Brigg davon zu segeln, hätte den kleinen Schooner zu nah an den Kanonen der Brigg vorbei geführt. Die Karronaden an Bord der Kraken waren zwar wahre Zerschmetterer,aber bis sie auf Kernschussweite an die Brigg heran gekommen wären, hätte diese sie mit ihren weiter reichenden Kanonen wohl schon in Stücke geschossen.

    Askirs Blick gleitet über das volle Deck seines Schiffes. Ein so volles Deck wäre nicht unüblich, wenn die Kraken ein Piratenschiff wäre. Diese kleinen und wendigen Schiffe werden gerne von Piraten genutzt, operieren aber meist nicht allzuweit von einer schützenden Küste entfernt und sind nur wegen der sinnvollen Übermacht beim Entern überbesetzt. Mit kampfkräftigen und bis an die Zähne bewaffneten, zu allem entschlossenen und Schandtaten bereiten Salzbucklern – und nicht mit verängstigten und teilweise seekranken, unbewaffneten und unterernährten ehemaligen Sklaven. Auf See sind diese keine große Hilfe.

    Doch derzeit ist nicht viel zu tun. Die Segel sind bestmöglichst gesetzt und in regelmäßigen Abständen scheuchen die Bootsmänner Matrosen in die Takelage, um sie zu wässern. Die Pulverladungen und Kugeln liegen neben den Karronaden bereit. Die Säbel sind geschärft und die Schwarzpulverwaffen mit neuen Feuersteinen versehen. Der Schiffszimmermann hat Holzkeile und Werg für etwaige Leckagen vorbereitet und Rauch steigt vom Kombüsenschornstein am Bug auf.

    So kann sich die Verfolgung noch stundenlang hinziehen …

  • Ein Glas und eine Karaffe mit Wasser stehen auf dem Tisch. Im Wasser bildet sich das Rollen des Schiffes in der Dünung einer abgelegenen Bucht ab. Im Schein einer Laterne, in der die Flamme hinter einem Glas gut geschützt ist, erfüllt wieder einmal das Kratzen der Feder die Kabine des Kapitäns auf der „Kraken“.

    „Wäre Mattias Jess nicht gewesen, dem ich seit unserer ersten Begegnung in Weltenwacht vor über sieben Götterläufen in tiefer Freundschaft verbunden bin, hätte ich wohl nie meine Füße auf die Erde der Lesath gesetzt. Doch so habe ich mich von den Drachenlanden aus direkt auf den Weg zur feinen und freien Stadt Neu-Ostringen gemacht.

    Auf dem Weg traf ich einige Aventurier, mit denen ich gemeinsam reiste und bei denen ich unterkam. Eine Gruppe von Geweihten und Novizen der Tsa-Kirche, die mir in den folgenden Tagen die Lehren dieser oft verkannten Kirche in der ihr innenliegenden Ernsthaftigkeit nahe brachten. Besonders der Aspekt des Neuanfangs und damit dem setzen eines neuen Kurses hat einen größeren Einfluß gehabt, als ich es auch jetzt noch mehr erahne als begreife.

    Schon seit einigen Jahren ist mein ‚Zwillingsbruder‘ in Neu-Ostringen als Herold tätig, so dass ich nicht zögerte ihn in seinen Aufgaben zu unterstützen. Eine interessante aber auch oft frustrierende Aufgabe, denn eine Einhaltung von Zeiten und angekündigten Veranstaltungen war einfach nicht sicherzustellen. Wenn ich so mein Schiff führen würde, hatten wir ständig eine große Wuhling an Bord.

    Wir Herolde – Mattjess, die bezaubernde Milla, Fathima, Maximilian und ich – versuchten unser Möglichstes, aber die Widerstände waren oft zu groß. Was vor allem daran lag, dass die eigentlich Verantwortlichen die Verantwortung für ihre Aufgaben meist vermissen ließen. Man hatte das Gefühl, dass ein ständiges ‚Daddeldu‘ wie bei der ‚Dorothee‘ herrschte – nur ohne, dass dieses irgendwann endet und trotzdem alle ihre Grogration haben wollen.

    Aber ich habe in ‚Streitland‘ auch unabhängig davon das Gefühl, dass die Meisten ihr Hirn an der Landesgrenze ablegen – wenn nicht schon vorher. Denn der ‚Wettkampf‘ dient nur dem Zweck möglichst viel Blut zu vergießen, damit eine angeblich böse Göttin gefangen bleibt und dort alles so bleibt, wie es ist. Und damit natürlich für die unsterblichen Lesath. Und Alle finden es richtig eine nicht bekannte Magie mit ihrem Blut zu unterstützen.

    Ich habe starke Zweifel, ob die Meisten dieser Leute – und da beziehe ich besonders meine Handelspartner aus Yddland mit ein – das außerhalb von diesen Landen auch so sehen. Aber auf lesathischem Boden scheint Blutmagie plötzlich vollkommen normal und unterstützenswert zu sein. Ganz ehrlich: Wie bescheuert kann man sein?

    Wo man beim Fest der Drachen zumindest nicht nur für die Herrschaft des Drachen, sondern damit auch für die von einem selbst unterstützten Aspekte, die nach einem Sieg auch in die Welt hinaus getragen werden, kämpft, sehe ich in dem Blutvergießen im Lesathland keinen Sinn. Die Lesathen machen ein großes Geheimnis daraus oder erzählen nur ihre Version einer Geschichte und führen sich auf, als hätten sie die Arroganz erfunden, scheinen aber ohne fremde Hilfe aufgeschmissen zu sein.

    Die meisten Reisenden haben einen großen Spaß daran sich gegenseitig abzuschlachten, da man ja wegen eines Zaubers der Lesath nur selten stirbt, während hier irgendwer oder irgendwas durch Blutmagie Kraft sammelt. Gleichzeitig wird vor der bösen Göttin Theki gewarnt. Ich habe die Erzählung gehört, dass einst zwei Götter gegeneinander kämpften und die Welt zu zerstören drohten. Nur mit der Hilfe der mächtigen Theki konnten die Lesat diese Götter verbannen – und haben dabei Theki, die ihnen zu mächtig geworden war – direkt mit eingesperrt. Wenn das wahr ist, dann kann ich zumindest nachvollziehen, warum Theki sauer ist.

    Nachts lauerten uns in der Stadt aber auch in den Lagern Gestalten aus schwarzem Rauch, welche ‚Schatten‘ genannt wurden, auf und bisher konnte mir Niemand erklären, wo die nun herkommen. Auch gibt es einen Kult einer Göttin mit vier Gesichtern, die starke Verwandschaft zu der vielgeschlechtlichen Versucherin zu haben scheint. Aber gut, dass wir sonst keine Probleme haben und weiter Blutmagie unterstützen, ohne wirklich sicher zu wissen warum und wofür.

    Sich selbst Probleme machen kann man aber auch in Neu-Ostringen. Einer Stadt, die von zwei demokratisch gewählten Bürgermeistern und einem Stadtrat regiert wurde. Im Stadtrat waren alle Stadtviertel vertreten, aber normalerweise nur drei anwesend. Einer der Bürgermeister war Janko, ein Magister aus Riva, dem ich schon vor einigen Jahren in Amonlonde begegnet bin, und der Keiv, den Geschützmeister der Gorgon, als Leibwächter unter Sold hatte.

    Der Andere, John Williams, ist überzeugter Demokrat und gibt sich als Mann der kleinen Leute, zugleich hat er jedoch viel Geld in seinen Wahlkampf gesteckt. Geld, das ja wohl irgendwo her kommen muss. Er war es dann auch, der hinter dem Rücken des Stadtrates geheime Verhandlungen mit dem Lager des alten Weges führte, während der Stadtrat beschloss die Miliz gegen dieses Lager ausrücken zu lassen. So warnte Williams mit einem Brief das Lager, das ’seine‘ Miliz angreifen wird.

    Er zog selber mit der in diesem Jahr erstmalig aufgestellten Miliz, die das Lager des alten Weges stürmte, und wurde dabei verwundet. Verwundert zeigte sich indessen der Oberst (übrigens ein Aventurier aus Trallop), dass Geheimverhandlungen liefen und er keinen seiner Leute einer Gefahr hätte aussetzen müssen. Den erzürnten Altweglern übergab er daher den Bürgermeister zur Bestrafung. Eine Bestrafung, bei der viel Blut floß, wie ich anmerken möchte.

    Abend echauffierte sich Williams dann noch in der Taverne und forderte den Oberst wegen Hochverrats anzuklagen, öffentlich vor Gericht zu stellen und aufs Ärgste zu bestrafen. Da das aber nicht in unser Aufgabengebiet als Herolde fiel, machten wir uns weiter an die uns zugewiesene Durchführung der Wahl des neuen Bürgermeisters von Neu-Ostringen, in deren Rahmen auch ich mich als Bürger der Stadt eintrug.

    Gerade als wir Herolde am nächsten Tag alle Stimmzettel für die Bürgermeisterwahl beim Bürgerhaus abgegeben hatten, wurde der von uns abgehaltene Jahrmarkt jäh beendet und Käpt’n La Hire trat mit dem Oberst und dem Hauptmann der Pulvergasse auf die Bühne: Die Bürgermeister und der Stadtrat wurden für abgesetzt erklärt und sie Drei würden die Herrschaft übernehmen.

    Kurze Zeit später wurde die Kesselgasse barrikadiert und erklärte sich als „Alt-Neu-Ostringen“ für selbstständig unter den amtierenden abgesetzten bisherigen Bürgermeistern. Die Ereignisse überschlugen sich, da während der großen Schlacht einige Städter im Bündnis mit dem Lager des grünen Kometen die Stadt besetzten und nun gegen die Putschisten die Miliz das Triumvirat verteidigten. Wir mir erzählt wurde war das Triumvirat aber schon gar nicht mehr vollständig, da der Pulvergraben die Seiten gewechselt hatte.

    Colonel La Hire wurde als Einziger des Triumvirats brutal mißhandelt, bevor man sich einigte, dass fortan zwei Bürgermeister und der Oberst gemeinsam die Stadt regieren sollen. In der ganzen Wuhling sind übrigens die Stimmzettel verschwunden, so dass die Bürgermeister scheinbar erstmal einfach weiter regieren. Bei einem Gespräch zwischen wenigen Leuten wurde in einem Kompromiss das Herrschaftssystem der Stadt geändert und der Frieden bewahrt und alle Demokraten waren zufrieden.

    Apropos Demokraten: Als ich meiner Aufgabe als Herold nachkam und zur Wahl des Bürgermeisters aufrief, wurde ich vom Schiffsarzt der ‚Drunken Bastard‘ tätlich angegriffen. Er bespritze mich mit Wasser aus einer Landlenzpumpe! Dieser alte Bock mit seinem roten Hütchen, der scheinbar allzu gerne selbstherrlichen Herrschern in den Allerwertesten kriecht!

    Dabei habe ich nur meine Aufgabe wahrgenommen, für die ich Heuer erhielt – selber bin ich ja gar kein Demokrat. Eine Erkenntnis, die sich in den Tagen in Neu-Ostringen nochmal bekräftigt hat. So wie, ich Herrscher, welche diese nur auf Gewalt oder angeblich göttliches Recht oder alte Stammbäume begründen, ablehne, so schreckt mich doch der Mob oder widerwärtiges Pack, welches plötzlich regieren darf, fast noch mehr.

    Ein gutes Beispiel, welche mißratenen Subjekte bei der Demokratie einen Anteil an der Macht haben dürfen, zeigte sich gut in der Gerichtsverhandlung gegen einen Wirt aus der Messergasse und seinem Handlanger. In seiner Spelunke hatte er zwei Gäste aus dem Lager des Lichts mit einem Schlafgift betäubt, sie ausgeraubt und – wie ich vernommen habe – den Horden des Chaos ausgeliefert. Bis zum Schluß blieb er uneinsichtig, spuckte auf das Gastrecht und verwies auf ein Schild an der Messergasse, dass es dort gefährlich sei. Als ob ich mit einem entsprechenden Schild am Haus auch jeden Mord entschuldigen könnte.

    In einer öffentlichen Gerichtsverhandlung wurde er zur Zahlung einer Strafe verurteilt und seine Taverne geschlossen. Darüber hinaus wurde er für einen Götterlauf aus der Stadt Neu-Ostringen verbannt. Von mir aus hätten sie ihn aber auch am Zeremonienpodest, dem einzigen Ort, an dem man endgültig stirbt, aufknüpfen können. So bleibt mir nur die Hoffnung, dass dieses verkommene Sujekt in dem Jahr seiner Verbannung den Tod findet und sein Handlanger ebenfalls.“

    Askir legt die Feder beiseite. Das Rollen des Schiffes hat zugenommen, was sich auch in der Schrift in seinem persönlichen Logbuch widerspiegelt. Kurzentschlossen erhebt er sich und verlässt die Kajüte, um einen prüfenden Rundgang an Deck zu machen. Ein Sturm scheint aufzuziehen und die Dünung hat sich verstärkt. Sicherheitshalber lässt er seewärts an Bug und Heck noch jeweils einen Anker ausbringen. Auch wenn die Frauen und Männer in der Schaluppe ihn für diese harte und nasse Arbeit verfluchen mögen – ein Stranden wäre sicherlich nicht besser. So vergeht einige Zeit, bis der Kapitän wieder an seinen Schreibtisch zurück kehrt.

    „Johann von Schattenthal war in Lethe – unsere erste Begegnung seit unseren gemeinsamen Erlebnissen in Magonien vor gut neun Götterläufen. Er hat in dieser Zeit Aventurien und den Zwölfen den Rücken gekehrt und ist offensichtlich zu einem Iren geworden, wenngleich es für mich noch immer schwer ist das nachzuvollziehen. Doch er hat, seinen Worten nach, dort endlich Heimat, Familie und Sinn gefunden. Wie er richtig feststellte haben wir uns beide seit Magonien verändert.

    Ich glaube nicht, dass Johann weiß, wie sehr mich seine Worte und unser Gespräch berührt und nachdenklich gemacht haben. Er hat recht: damals noch ein allein reisender Glücksritter, der auf Phexens Hilfe hoffend auf etwas Wohlstand hoffte, heute ein durchaus wohlhabender Händler, der die Zeit hat mit einem eigenen Schiff unterwegs zu sein. Doch noch lange habe ich in dieser Nacht alleine auf der Treppe zur Bühne gesessen und über ‚Heimat‘, ‚Familie‘ und ‚Sinn‘ nachgedacht.

    Noch immer bin ich unterwegs, auf Reisen und kein Ort kann mich lange halten. Mein Schiff gleitet durch die See auf immer neuem Kurs und mit ständig wechselnden Zielen. Auf der Suche nach Abenteuer und vielleicht auch einem Ort, den ich ‚Heimat‘ nennen kann. Vielleicht aber auch, weil ich mich noch immer schwer damit tue, die See meine ‚Heimat‘ zu nennen – wenngleich sie die erste Antwort auf die Frage nach meiner Heimat ist, die mir in den Kopf kommt.

    Bei dem Begriff ‚Familie‘ sah ich direkt ein großes Zelt mit Theke vor mir. Mehrere Schiffe, die Reling an Reling die Freiheit über die Meere tragen. Die vertrauten Gesicher von Arktos, Rubeus, Morgon, Draussen, … So verrückt es klingen mag, aber vor Allen sind es diese Männer und Frauen aus ‚Fortunas Flotte‘, die ich als meine Familie bezeichnen würde. Die meine Leidenschaft für die See und die Freiheit teilen. Auf die ich vertraue, wie sie sich auf mich verlassen können.“

    Wieder legt Askir die Feder beseite. Er nippt am Glas Wasser, während er – den Blick aus den Heckfenstern hinaus auf die See gerichtet – überlegt, was er über den Sinn in seinem Leben schreiben soll. Was es dazu überhaupt zu schreiben gibt. Er ist ein Verfechter der Freiheit, aber er weiß auch zu gut, dass es in seinem Inneren noch eine Leere gibt, die genau diese Sinnfrage betrifft. Er hat in besagter Nacht nach dem Gespräch mit Johann länger darüber nachgedacht – ohne dass er eine Antwort gefunden hätte. So beschließt er es derzeit darauf beruhen zu lassen und nimmt wieder die Feder zur Hand.

    „Was in ‚Lesathien‘ vor sich geht kann nicht gut sein, wenngleich es ein gutes Beispiel dafür abgibt, wie dumm Menschen sein können, wenn man ihnen nur einen halbwegs schlüssigen Grund für Blutmagie liefert. Von mir aus könnte man dieses Land damit allein lassen, doch zeitgleich gibt es dort gute Menschen, um die ich besorgt bin. Wie meine alten Freunde aus Yddland und meine neuen Freunde vom Tsa-Tempel, meine alten Kameraden von der ‚Drunken Bastard‘, die neuen Bekannten von der ‚Dorothee‘ – und nicht zuletzt die ‚Herolde‘, in erster Linie Mattias Jess. Sie sind der Grund, warum ich darüber nachdenken werde auch zu den nächsten Spielen in ‚Lesathien‘ zu reisen. Irgendwann in einigen Monden.“


    OT-Anmerkung
    Ich weise darauf hin, dass es sich bei dem obigen Text um eine Wiedergabe der Eindrücke meines Charakters Askir von der See handelt. Er beinhaltet das, was ich erlebt und erfahren habe – was nicht zwingend objektiv richtg sein muss.
    Ebenso ist Askirs Meinung über einzelne Charaktere genau das: Askirs Meinung über Spielercharaktere, nicht zwingend über den Spieler hinter dem Charakter.
    Dementsprechend bitte ich den obigen Text als reine IT-Meinung zu betrachten. Das diese Informationen natürlich nicht im Spiel verwendet werden sollten, da das private Logbuch von Askir nicht Jedem zugänglich ist, sollte selberverständlich sein.

  • Askir sitzt auf der Bank unter den Heckfenstern seiner Kajüte und blickt hinaus auf die See. Über seinem Kopf ertönt die Stimme der Masterin, wie sie einen Matrosen zur Ordnung ruft. Das Leben auf See in der Regelmäßigkeit seiner Tagesstruktur, die von den Glasen bestimmt wird, hat für den Kapitän und seinem Matrosen Gero, der ihn dieses Jahr auf die Festinsel der Drachenlande begleitet hat, wieder begonnen.

    An der Kimm sind nur noch vage die Mastspitzen der „Gorgon“ zu sehen, denn auch „Fortunas Flotte“ hat sich wieder getrennt. Jedes Schiff fährt nun seinen Kurs bis zum nächsten, hoffentlich baldigen Zusammentreffen. Nur mit einer Hose bekleidet schenkt sich Askir den leckeren weißen Portwein nach. Es ist noch immer heiß, wenngleich der Wind auf See wenigstens etwas Abkühlung bringt.

    Sein Blick gleitet hinüber zu seinem kleinen Schreibtisch, auf dem Buch und Feder liegen. Mit einem Seufzen erhebt er sich, setzt sich an den Tisch und greift zur Feder, um in seinem persönlichen Logbuch die wichtigsten Ereignisse des Festes der Drachen niederzuschreiben …

    „Der blaue Drache hatte gerufen und ich war ein weiteres Mal seinem Ruf gefolgt. Es war das sechste Jahr nach dem ersten Sieg des Blauen und alle ‚Blaufüchse‘, mit denen ich schon im Vorfeld eine rege Korrespondenz unterhalten hatte, waren sich einig, dass es nach unserer jahrelangen Vorarbeit an der Zeit ist ein zweites Mal den Blauen Drachen die Herrschaft zu ermöglichen.

    Wir ‚Blaufüchse‘ hatten uns schon im Vorfeld darauf geeinigt dieses Jahr Frieda Fluchbrecher als Hochdiplomatin vorzuschlagen. Zum Einen, weil wir nicht unsere Institution mit nur einem Namen verbunden sehen wollen, zum Anderen weil man als Hochdiplomat stark an das Lager gebunden ist und ich auch mal wieder unterwegs sein wollte. Auf Grund der Hitze im Nachhinein gesehen ein selten dämlicher Grund.

    Im ‚Captains Table‘ war es jedoch erst mein Name, der von vielen Kapitänen genannt wurde, als die Frage nach dem neuen Hochdiplomaten gestellt wurde. Ich kann nicht verhehlen, dass ich es mit Stolz zur Kenntnis genommen habe. Doch wie besprochen habe ich Frieda vorgeschlagen.

    Ich war jedoch nicht darauf gefasst, dass Wulfgrim von den Blutwulfen tatsächlich Brego ebenfalls als Kandidaten zum Hochdiplomaten vorschlug. Gemeinsam mit Frieda war er vorletztes Jahr Hochdiplomat – und nach Wulfgrims Worten waren die Fehler in jenem Jahr allein Friedas Schuld. Ein Jahr, das von vielen ‚Blaufüchsen‘ als verlorenes Jahr angesehen wird und an dessen Ende ich meinen Diplomatenpass zerrissen und Brego vor die Füsse geworfen habe. Und das lag ganz sicher nicht an Frieda.

    Letztendlich gewann – den Göttern sei Dank – Frieda die Abstimmung. Sie ernannte mich zu ihrem Stellvertreter und ich übernahm, wie schon in den Jahren zuvor, das Silberne Lager, wohin mich Nell Zeughauser begleitete. Kerlon übernahm wieder Gold, Nanashi Rot, Aki die Orks, Doc Langhals den Wandel, Rolf Grau und Jareth – begleitet von Mama Lia – Schwarz, Grete das Weiße Lager und die Mademoiselle Kupfer. Neu dabei übernahm Käpt’n Anderport das grüne Lager, während sich Draußen, Jette und Klaas um die anzuwerbenden Lager und Gruppen kümmerten. Als Schreiberin wurden wir von Elizabeth unterstützt.

    Am Morgen dieses Tages war Brego, der einer der ‚Anker‘ des Blauen Lagers ist, schon bei mir gewesen und hatte mir erklärt, wie ich die Diplomatie mit dem Silbernen Lager anpacken sollte. So schlug er vor, dass wir ihnen anbieten, dass wir den Sieg und das Geld einstreichen, aber die Herrschaft an Silber abgeben werden. Wie er sagte hätte der Avatar ja oft genug geäußert, dass es ihm nur um den Sieg geht und er gar nicht herrschen möchte.

    Ich hatte es anders in Erinnerung, so dass – auch zur eigenen Sicherheit – mein erste Gang zum Avatar führte. Auf meine diesbezügliche Frage bezog er ganz klar Stellung: er wollte den Sieg, würde sich dann aber auch der damit einhergehenden Verantwortung stellen und die Zügel das ganze Jahr über in der Hand halten. Eine Abgabe der Herrschaft wäre wie sich aus der Verantwortung stehlen und käme nicht in Frage. Danke, diese Antwort hatte ich mir erhofft.

    Dies war es auch, was ich gegenüber den Verantwortlichen im Silbernen Lager erklärte. Ich appellierte an die silberne Gnade hinsichtlich unseres Fehlers im ersten blauen Jahr, als ohne unsere Führung das Chaos herrschte. Ebenso wies ich darauf hin, dass der Blaue Weg sich weiter entwickelt hat und wir gelernt haben, wir die Chance auf den Beweis eines Neuanfangs erhalten sollten, was nur mit einem Sieg möglich ist.

    Dabei half sicherlich auch, dass die für uns zuständigen Diplomaten aus der Gesandtschaft von Hammaburg und der Vargberg-Ottajasko als auch der silberne Heerführer, Ritter Golodan, langjährige Freunde von mir waren. Manchmal braucht es halt – Phex sei Dank – ein Quentchen Glück.

    Zwei Jahre lang war ich Diplomat für das goldene Lager gewesen, bis mich Kerlon im letzten Jahr ablöste. In dieser Zeit habe ich viel über den Verrat, der dem goldenen Drachen inne wohnt, gehört, jedoch nie ein Anzeichen davon gesehen. Seit Jahren bemühen sie sich um eine Freundschaft mit uns und nun gingen sie, wie mir gegenüber schon in Elitawana angedeutet, noch einen Schritt weiter: Sie verzichteten zu unseren Gunsten auf eine Siegforderung.

    So stand das erste Bündnis schon vor dem ersten Ritual und während der folgenden Tage haben sie sich als engagierte und verlässliche Bündnispartner heraus gestellt. Nach unserem Sieg stehen wir wahrlich in unserer Schuld und es wird beim nächsten Fest der Drachen unsere zuvörderste Aufgabe sein diese Schuld zu begleichen.

    Innerhalb von nicht mal einem Tag schlossen sich auch Schwarz und Silber diesem Bündnis an. Dabei unterstellte Ritter Golodan die silberne Streitmacht dem blauen Oberbefehl. Wir waren auf dem richtigen Weg, wenngleich ich noch skeptisch war: es ist zuweilen einfacher Bündnisspartner zu finden als sie über einen längeren Zeitraum zu halten. Aber das Bündnis hielt!

    Auf der Gegenseite formierte sich derweil ein Bündnis um den fordernden grünen Drachen und seinen Unterstützern Rot und Grau. Kupfer forderte – seiner Natur gemäß – ebenfalls. Doch auch Kupfer, Weiß und Wandel schienen wenig von einem weiteren grünen Sieg zu halten, so dass wir mit ihnen zwar nicht Seite an Seite, aber zuweilen gegen den gleichen Gegner stritten.“

    Der Kapitän setzt die Feder ab und nimmt einen Schluck Port. Auf ein loses Stück Papier kritzelt er einige Stichworte, um bloß keine wichtige Begebenheit zu vergessen. Denn dieser Eintrag soll ja auch dazu dienen sich später nochmal Ereignisse in Erinnerung zu rufen, die einem dann nicht mehr so klar vor Augen stehen. Wie Jenes, was im Grauen Lager geschah.

    Da das graue Lager dieses Jahr direkt neben dem Blauen lag, gab es die Hoffnung nach vielen Jahren wieder gemeinsam zu streiten. Es gibt noch etliche Blaue, die der Zeit der grau-blauen Freundschaft hinterher trauern. Dabei ist diese schon seit Jahren nicht mehr spürbar und vielleicht sollte man sich einfach damit abfinden, dass auch Freundschaften endlich sein können und die Zeiten nicht überdauern.

    Doch wir wagten eine erste Annäherung und schlugen ein Schutz- und Trutzbündnis vor, das auch angenommen wurde. Doch es währte nicht lange, denn tief in der folgenden Nacht teilten uns mehrere graue Diplomaten mit, dass sie sich dafür entschieden hätten dem grünen Drachen auf den Thron zu helfen. Damit stellten sie sich gegen uns und als Gegner (nicht als Feinde!) hob der ‚Captains Table‘ das Verteidigungsbündnis auf.

    Wenig später schon erfolgte der erste Angriff von blauen und schwarzen Truppen auf das graue Lager. Das führte scheinbar im grauen Lager so solcher Verstimmung, das Rolf, der für Grau zuständige ‚Blaufuchs‘, und ich am Tag darauf den grauen Lagerrat aufsuchten. Dieser teilte uns mit, dass erst in Folge unseres Angriffs die Entscheidung zur Unterstützung von Grün gefallen ist.

    Eigentlich seien sie in der Nacht noch dabei gewesen den letztjährigen Vertrag mit Grün auf Schlupflöchern zu untersuchen, um dann uns unterstützen zu können. Doch nun hätte man schon Grün fest zugesagt. Da ich indessen von einigen Grauen erfahren habe, dass schon am Vorabend klar war,  dass Grau auf Grund des fehlerhaften Vertrages nicht an Grün gebunden gewesen wäre, bin ich geneigt zu glauben, dass das Alles eine Finte des grauen Lagerrates war, um ihr Lager auf die Unterstützung von Grün einzuschwören.“

    Der Kapitän fährt sich mit der linken Hand über das wenige, kurze Haar, das noch den Mut hat sich auf seinem Haupt zu zeigen. Noch viele Fragen sind ungeklärt, was den nächtlichen Angriff auf das graue Lager in der Nacht danach angeht. Doch letzendlich sind dabei Taten durch Angehörige des Blauen Lagers verübt worden, die unentschuldbar sind.

    „In der Nacht nach der Entscheidung des grauen Lagers die grüne Forderung zu unterstützen erfolgte ein Angriff auf das graue Lager, das federführend in den Händen der Blutwulfen lag. Über diesen Angriff und besonders seinem Ausmaß waren zumindest die ‚Blaufüchse‘ nicht informiert und ihm schloßen sich wohl weitere Kämpfer, unter anderem Teile der Sturmflut, an.

    Hätte der Angriff nur militärischen Zielen gegolten, wie dem Tor, den Belagerungswaffen und dem Garten mit Heilkräutern, wäre es ein erfolgreicher Angriff mit Sinn gewesen. Doch wurden dabei auch die graue Bibliothek, gewissermaßen das Herz des Grauen Lagers, die auch von uns gerne bei Nachforschungen genutzt wird, zerstört. Die Dokumente haben wie durch ein Wunder überlebt, aber der Schaden war angerichtet.

    Dass die Blutwulfen während des Angriffs auch das Diplomatenzelt gestürmt und alle Diplomaten massakriert haben, war dagegen eine kleine Verfehlung. Möglicherweise war ihnen auch nicht bekannt, dass schon vor einigen Jahren alle Avatare mit Ausnahme des Roten ein Dokument unterzeichnet haben, dass Diplomaten Immunität genießen. Wobei es wieder einmal beweist, dass Feder und Papier letztendlich nicht stärker sind als das Schwert.“

    Askir von der See nimmt noch einen Schluck Port und versucht sich die Dinge, die er über diese Nacht und die Ereignisse, die dazu geführt haben, wieder in Erinnerung zu rufen. Ebenso versucht er sich an das Protokoll von Wulfgrims Vernehmung im grauen Lager, von dem Rolf eine Abschrift organisiert hat, zu erinnern.

    „Leider haben wir nur Wulfgrims Aussage und ihm traue ich nur so weit, wie ich Brishnak werfen kann. Es soll vor seinem Lager eine Kiste aufgetaucht sein, in der er mit dem Angriff auf das graue Lager und die Zerstörung mehrerer Orte, unter anderem der Bibliothek, beauftragt wurde. Die Entlohnung lag in Münzen ebenfalls in der Kiste.

    Man könnte bei einem solchen anonymen Auftrag vorsichtig sein. Man könnte auch meinen, dass Jeder, der im Voraus bezahlt, selber schuld ist – die Kiste wegwerfen und das Geld behalten. Könnte man. Aber scheinbar nicht die Blutwulfen. Wulfgrims Aussage nach wurde die Bibliothek schon zerstört, bevor überhaupt ein Blaulagerist dort gewesen ist.

    Eine durchsichtige Schutzbehauptung eines Überführten? Oder hat Jemand die Leichtgläubigkeit und Gier der Blutwulfen angesichts klingender Münzen ausgenutzt und damit deren Ruf und entsprechend den Ruf des ganzen Blauen Lagers vorsätzlich zerstört? Es gibt wohl Kupferne, die diesbezüglich investigativ tätig sind und angeblich würden Spuren ins grüne Lager führen, doch derzeit gibt es mehr Gerüchte und Theorien als verlässliche Aussagen.

    Dieser Angriff mit der Zerstörung der Bibliothek hat zumindest derzeit einen Keil zwischen Grau und Blau getrieben. Darüber hinaus hat er aber auch den Ruf der Blutwulfen, die schon seit Jahren immer wieder umstritten waren, geschadet. Zum einen teilten mir bisherige Freunde aus dem Grauen mit, sie mich als Feind ansehen müssten, so lange ich gemeinsam mit den Blutwulfen aktiv sein würde.

    Zum anderen mehren sich aber auch im Lager die Stimmen derer, die sich fragen, warum der Blaue Drachen die Blutwulfen überhaupt noch ruft, wenn sie doch nur ihre eigene Sache machen. Meiner Ansicht nach eine müßige Frage, denn auch Blutbart war auf seine Art ein Anhänger des Blauen Weges. Aber im Lager wird indessen immer öfter erörtert, wie man die Blutwulfen aus dem Lager werfen kann. Eine Entwicklung, die noch blutig   im Bürgerkrieg enden   schwierig   interessant werden könnte.

    Während Entsetzen mich ergriff, als ich von der grauen Bibliothek hörte, wurde und werde ich richtig zornig, als ich erfuhr, dass die Blutwulfen eigene Diplomaten haben, die sie durch die Lager schicken. So musste ein ‚Blaufuchs‘ einmal warten, weil die Hochdiplomaten des anderen Lagers erst noch mit den Diplomaten der Blutwulfen reden mussten. Indessen habe ich erfahren, dass das schon seit einigen Jahren der Fall ist.

    Bei Efferd, dem Launenhaften – wenn die Blutwulfen ohne Absprache andere Lager angreifen und eigene Diplomaten losschicken, dann stellen sie ein Lager im Lager dar, wie es in dieser selbstherrlichen Art selbst das noch immer oft mit Hass in der Stimme erwähnte Tiefseeblau nie gewesen ist!“

    Askir greift zum Glas und mit zornesblitzenden Augen leer er es in einem Zug. Er braucht einige Runden durch seine kleine Kajüte, bis er sich wieder beruhigt hat und weiterschreiben kann. Auch wenn er jetzt schon merkt, dass das nächste Thema sein Blut wieder in Wallung bringt, wenngleich nicht so stark, wie auf der Dracheninsel selbst.

    „Als Heerführer hat der ‚Captains Table‘ Heinrich Büttner bestimmt, der zwei Stellvertreter und eine Adjutantin hatte. Ein Stellvertreter war, sozusagen zum ‚Anlernen‘, Juan von der ‚La Vierge‘ und ein mir bis dahin unbekannter, aber im positivsten Sinne engagierter Krieger. Als Adjutantin fungierte die hübsche und fleißige Alexandra van Hummel.“

    Der Kapitän schenkt sich noch etwas des guten yddländischen Portweins nach. Ohne Tinte kann man schließlich auch nicht schreiben.

    „Ich schätze sie alle und war über ihre Wahl erfreut – um so stärker war meine Enttäuschung, dass sie es versäumten mal mit den Heerführern der verbündeten Lager zu sprechen. Mehrfach beschwerte sich der silberne Heerführer bei mir, dass sein Heer jetzt dem fordernden Blauen untersteht, aber Niemand mal mit ihm redet, wann er wo angreifen soll. Jedes mal gab ich es weiter, aber es kam keine Reaktion.

    Das hat mich so in Rage versetzt, dass ich in einer Nacht Juan angeschrien habe, ob die Diplomaten jetzt auch noch die Heerführung übernehmen sollten, damit es mal läuft. Derweil flog mein Hut vom Zornessturm getragen quer durch das Lager der ‚La Vierge‘. Verdammt, manchmal muss man einfach mal laut werden!

    Und ich glaube es hat auch genutzt. Juan und ich haben uns noch länger unterhalten in dieser Nacht und ich hatte das Gefühl, dass es danach besser lief. Zumindest traf er Entscheidungen, die mich dann direkt nochmal mitten in der Nacht zum silbernen Lager führte, und auch für die große Schlacht gab es eine scheinbar vernünftige Absprache.“

    Tief atmet Askir durch. Ja, die Entscheidung, die ihn mitten in der Nacht gemeinsam mit Kerlon Bloom nochmal zum silbernen Lager führte. Ein erster Schritt zu einer sehr ereignisreichen und beunruhigenden Nacht. Er nimmt noch einen tiefen Schluck, bevor er wieder zur Feder greift.

    „Kerlon und ich verließen das blaue Tor, um gemeinsam zum silbernen und danach zum goldenen Lager zu gehen. Doch das Nächste, an das ich mich erinnern konnte, war, dass ich auf dem Friedhof neben einem Grabstein lag und den Sternenhimmel beobachtete. Ich glaube ich wäre gerne noch etwas länger geblieben, aber Kerlon hat so lange gerufen, bis der Moment der Stille gänzlich verdorben war.

    Aus Erzählungen konnten wir uns zusammen reimen, dass wir wohl gestorben sind. Der Zustand meiner Geldbörse und die fehlenden Knöpfe an meiner Weste ließen darauf schließen, dass Räuber daran beteiligt waren. Zumindest schienen sie Geschmack zu haben. Sorgen machte mir eher mein Seelenheil, doch wir hatten noch einen Auftrag zu erledigen.

    Silbernes Lager. Geschlossenes Tor. Nachtwache davor. Mit besonderer Akribie wurden unsere Diplomatenpässe kontrolliert und abgefragt, zu wem wir möchten. Ich nannte fünf Namen, man lief los um eine der genannten Personen zu finden. Derweil mussten wir vor dem Tor warten, ohne dass man uns ein Getränk angeboten hätte. Es dauerte, bis die Wache wiederkam, den zweiten Namen erfragte und abermals verschwand.

    Nach über einer halben Stunde und mehrmaligem Abfragen von Namen, wen ich so kenne, war meine Geduld am Ende. Wir teilten der Wachkommandantin unser Anliegen mit und sie versprach es so weiterzugeben, dass ihr Heerführer es erfährt. Der selbige Heerführer, der am nächsten Tag einen Läufer zu uns schicken sollte, weil er keine Nachricht von uns bekommen hat.

    Also weiter zum goldenen Tor. Als dort genau das Gleiche passierte, wie am silbernen Tor, habe ich entschieden, dass es nur bedingt sinnvoll ist der einzige Depp zu sein, der um die Zeit noch unterwegs ist, während alle anderen Diplomaten und Heerführer sich auf dem Strohsack räckeln. Das war für mich scheinbar die Nacht des gepflegten Eskalierens.

    Doch rechten Schlaf wollte ich in der Nacht nicht mehr finden. Alpträume quälten mich, ich fühlte mich verfolgt von alptraumhaften Monstern mit leuchtenden Augen und manchmal musste ich an die schauerhaft-widerlichen Kreaturen denken, die damals in Weltenwacht Inat Laron in die Niederhöllen gerissen haben.“

    Der Kapitän schließt die Augen, um die Erinnerungen an diese Farce von einer Gerichtsverhandlung und der Strafe, mit der man zugleich den alten Göttern einen Weg nach Weltenwacht geöffnet hat, zu unterdrücken. Damals saß er als Leibwächter der Stimme der Zeit in der ersten Reihe – eine Frau, die in Elitawana schmerzlich vermisst wird. Askir schüttelt den Kopf. Bleib bei der Sache!

    „Die Erklärung, was geschehen war, erhielt ich später. Der Zahlmeister der ‚Gorgon‘ – Tüccar – wurde schon vermisst, als er endlich wieder im Lager erschien. Er sah überhaupt nicht gut aus und wollte Don Arktos sprechen. Später erfuhr ich, dass er das Mal des Seelenfressers trug und dass er es erhielt, als er gemeinsam mit Kerlon und mir unterwegs war, wo wir vom Seelenfresser in eine Sackgasse gejagt wurden und Tüccar sich opferte, damit wir fliehen konnten. Der Mann hat bei mir wahrhaftig etwas gut.“

    Askir nimmt einen Schluck vom Port und einmal mehr ist er über die Wendungen des Schicksals glücklich, die ihn zu „Fortunas Flotte“ führten. Harold war es, der ihn vor einigen Jahren mit den Käpt’ns des damals noch „Freibeuter Leviathans“ genannten Schiffsverbandes bekannt gemacht hatte. Eine Flotte, zu der er seit diesem Jahr auch als Kapitän mit seiner „Kraken“ gehört und die im Laufe der Zeit zu einer Art Familie geworden ist.

    Er hofft, dass im nächsten Jahr mehr Mitglieder seiner eigenen Crew vom Blauen Drachen gerufen werde, um die Flotte noch mehr zu verstärken. Die Flotte, die wohl überall irgendwo vertreten ist – Hafenmeisterei, Diplomaten, Riff, Heilerschutz, Zirkel, … -, auch wenn wohl nur wenige im Blauen Lager wirklich wissen, wer überhaupt alles zur Flotte zählt. Dass von ihnen jedoch so wenige in die erste Drachenwelt versetzt werden, wundert mich immer wieder.

    „Auch die Ereignisse in Elitawana wurden von einigen Reisenden mit in die zweite Drachenwelt. So suchte mich Sahar von der goldenen Akademie auf, um mich über ein aufgetauchtes Pergament zu informieren, das über sieben Bewahrer spricht, die wir wohl bei unserem nächsten Aufenthalt in Elitawana suchen müssten.

    Doch das Bedeutenste und zugleich Schlimmste, was ein Reisender mit in die zweite Drachenwelt mitbringen konnte, war der Hexer selbst. Rowan aus dem Lager des Wandels hatte in Elitawana einen Pakt mit dem Täuscher (ein Name, der meiner Meinung nach besser zum ‚Hexer‘ passt) geschlossen und öffnete für ihn ein Portal direkt neben der Drachenstele. Die Stimme des Hexers war zu hören, der sagte er wäre schon längst hier – bevor dann die Avatare Rowan zerstörten und seine Überreste von der Tochter des Wandels in den Urstrom geworfen wurden.

    Wir müssen wirklich dringend Aurora befreien und dem ‚Täuscher‘ das Handwerk legen, bevor er und die verfemten Drachen ihre Klauen auch in die zweite Drachenwelt ausstrecken und in unserer Gegenwart Anhänger finden. Die blauen Taten der letzten Reise in die Vergangenheit   eine andere Zeit waren ein guter Anfang, jedoch nur ein Anfang.“

    Wie kann man nur – es ist für Askir genauso unverständlich, wie wenn sich ein Aventurier mit dem Namenlosen verbündet. Doch das ist genau das Problem, das das Lager des Wandels hat: Es sitzen noch immer Dämonenpaktierer und solches widerwärtige Gezücht, menschlich oder nicht, in diesem Lager. So lange ist für Askir auch jegliches Bündnis ausgeschlossen.

    Wenn der Wandel gegen den selben Gegner wie Blau streitet und sich daher an unsere Seite stellt – bitte, wer will es ihnen verbieten. Askir kann auch gut damit leben, dass man sie nicht ständig angreift, zumal es auch konstruktive Wandler gibt, wie sich in Elitawana gezeigt hat – aber auf dem Weg zu einem Bündnispartner, den man ernsthaft in Betracht ziehen kann, ist das Lager des ewigen Wandels erst am Anfang.

    „Doch jetzt ist erst einmal die Zeit des Feierns gekommen. Das Blaue Lager hat gesiegt und der Blaue Drache wird für das kommende Jahr die Herrschaft über die Drachenlande ausüben – wenn er sie auch anders nennen mag. Eine Herrschaft, die meinem Eindruck nach auch über die Grenzen der Dracheninseln hinaus auf die ganze Welt abstrahlt. Und sei es, weil wir Freiheitskämpfer einen frischeren, stärkeren Wind in unseren Segeln spüren und die blauen Aspekte in die Welt hinaus tragen.

    Doch er wird nicht herrschen wie ein König, sondern wie ein Kapitän. Wenn er nicht weiß, wie er ‚herrschen‘ soll wird er, so kündigte er an, seine Geschwister fragen. Doch gegenüber dem Lager machte er deutlich, dass nicht nur er sich der Verantwortung stellen muss, sondern auch jeder von uns. Er ist der Käpt’n – wir sind die Crew. Und wir sind es, die unserem Käpt’n sagen, was wir in dem blauen Jahr umgesetzt haben möchten.

    Für mich persönlich steht die Freiheit überall auf den Dracheninseln ganz oben auf der Agenda. Das beinhaltet auch den Verbot jedweder Form von Sklaverei und Leibeigenschaft. Von mir aus kann man auch gerne für Alle, die dagegen verstoßen, einen Galgen am Eingang der Stadt aufstellen, wo ihre Leiber langsam verrotten und damit eine klare, deutliche Botschaft sind an alle Feinde der Freiheit senden.

    Der Blaue Avatar trägt keine Krone, er trägt einen Dreispitz, wie es einem Käpt’n gebührt. Und noch am Abend nach unserem Sieg ging eine Liste im Lager rum, auf dem sich Jeder, der wollte, für die Crew des Blauen eintragen konnte. Schließlich muss auch er mit seiner Crew ordnungsgemäß in der Hafenmeisterei angemeldet sein. Auch ich habe mich natürlich eingetragen.

    Beim nächsten Fest der Drachen werden wir jedoch erst richtig beweisen können, ob wir zu unserer Verantwortung und den durch uns gegebenen Versprechen stehen. Nicht nur ich bin besorgt, dass das Lager im nächsten Jahr in Lethargie verfällt und Gold nicht so unterstützt, wie sie uns. Daher wird es wohl eine Aufgabe der ‚Blaufüchse‘ sein hier motivierend innerhalb des Lagers aktiv zu werden – wenngleich ich hoffe, dass dies nicht erforderlich sein wird.“

    Der Kapitän der „Kraken“ legt die Feder beiseite und nimmt das Glas. Ein Lächeln gleitet über seine Lippen: Morgen ist das, was passiert, nachdem man den heutigen Tag genossen hat. Er hebt sein Glas und prostet durch die Heckscheiben der See zu.

    „Auf den Blauen Kapitän. Er ist der Käpt’n – wir sind die Crew. Auf die Freiheit!“


    OT-Anmerkung
    Ich weise darauf hin, dass es sich bei dem obigen Text um eine Wiedergabe der Eindrücke meines Charakters Askir von der See handelt. Er beinhaltet das, was ich erlebt und erfahren habe – was nicht zwingend objektiv richtg sein muss.
    Ebenso ist Askirs Meinung über einzelne Charaktere genau das: Askirs Meinung über Spielercharaktere. So halte ich (Hagen) außerhalb des Spiels z.B. den Spieler des Charakters von Wulfgrimm für einen echt netten Menschen und tollen Rollenspieler.
    Dementsprechend bitte ich den obigen Text als reine IT-Meinung zu betrachten. Das diese Informationen natürlich nicht im Spiel verwendet werden sollten, da das private Logbuch von Askir nicht Jedem zugänglich ist, sollte selberverständlich sein.

  • In den frühen Morgenstunden hatte die „Kraken“ die Anker gelichtet, nachdem die Matrosen Skua und Rahad sowie die Passagiere Corvo und Skadi mit mir wieder an Bord zurück gekehrt waren. Indessen prescht der Schoonter unter vollen Segeln und einer guten Bagstagprise durch die See – mit Kurs auf die Dracheninseln. Der Blaue Drache ruft und wie die Jahre zuvor werde ich zur Flotte stoßen, um gemeinsam mit den Crews der „Gorgon“, der „Arrbucc“ und der „Mighty Mule“ segelnd und streitend mein Können für einen blauen Sieg in die Waagschale zu werfen.

    In meiner Kajüte sitzend gleitet mein Blick über die mit bemalten Segeltuch bespannten Wände und Deckenplanken, die der dargaresische Künstler Kyell mit alptraumhaft-düsteren Krakenarmen und Geschöpfen malerisch gestaltet hat. Turbulente Tage in Elitawana liegen hinter mir. Tage voller Aktivität und vielfältiger Gefühle – von den Untiefen des Scheiterns und der Enttäuschung bis zu den Höhen von Freiheitswillen und Einheit.

    Viele mag es überrascht habe, dass es die Blauen waren, die schon am ersten Abend nach der Ankunft in der ersten Drachenwelt, die Verantwortung übernahmen um eine erste Wahl eines Heerführers und die erste Zusammenkunft in der goldenen Akademie zu organisieren. Als Hochdiplomat des Blauen war Letzters irgendwie in meine Verantwortung gefallen – ich meine mich zu erinnern, dass Norrec darran nicht ganz unschuldig war. Der einäugige Hundsfott, denke ich lächelnd bei mir.

    Die Zusammenkunft in der goldenen Akademie hat sich als Ort des Informationsaustausches schnell etabliert, während die Benennung eines Heerführers zu dem Zeitpunkt wohl daran scheiterte, dass Jedem der Beweis von dicken Eiern wichtiger war als dass man sich Jemanden untergeordnet hätte. Erst einige Tage später hatte man sich auf einen Silbernen einigen können. Kopfschüttelnd schütte ich mir ein Glas Portwein ein.

    Es war die Diplomatin der Norati, mit der ich etliche Gespräche führte, und die mir verständlich machte, wie sehr es in den letzten Jahren, bei unseren letzten Aufenthalten versäumt worden war, mit den Einheimischen der ersten Drachenwelt zu reden. Wir kamen, trafen Entscheidungen und verschwanden wieder – und die Menschen dort mussten dann mit dem durch uns angerichteten Chaos leben. Denn ehrlich gesprochen: Viel Gutes haben wir selten bewirkt. Nur allzu verständlich – an Stelle der Einheimischen hätte ich auch nicht applaudiert. Eine Frustration, die indessen der Hexer für sich genutzt hat, um Einheimische an sich zu binden.

    In der Folge haben wir öfters miteinander gesprochen und sie als auch andere Gesandtschaften wurden zu den den Treffen in der goldenen Akademie eingeladen. Es war ein Anfang, doch noch ausbaufähig. Etwas, was es zu verbessern gilt, wenn uns die Drachen das nächste Mal nach Elitawana schicken. Falls das nochmal vorkommen sollte, denke ich bei mir, falls dann Elitiwana noch existiert und nicht schon vom Feind genommen wurde. Eine meiner Ansicht nach nicht unbegründete Befürchtung.

    Seufzend lehne ich mich auf meinem Stuhl zurück, nippe an meinem Portwein und blicke hinüber zu meinem Hut, in der noch die weiße Rose der Gnade, welche ich für meinen Einsatz von der silbernen Hohepriesterin und ihrer Akolythin erhalten habe, steckt. Sie hat sich besser gehalten, als man hätte erwarten können. Hoffentlich können sich auch die Priester dort noch länger halten, als ich befürchte. Mögen die Drachen ihnen beistehen.

    Die Augen reibend streifen einige Erinnerungsfetzen an meinem inneren Auge vorbei. Khemrih, der nicht mehr Hetmann der Vargberg-Ottajasko ist. Rhea, die als neue Anführerin dieser Gruppe mindestens optisch eine Verbesserung ist. Mishra, der mehrfach die indessen wohl schon legendäre Geschichte von „Mishra aus dem blauen Lager“ erzählt hat, in der auch ich eine Rolle spiele. Meine Begegnung mit Lady Marthiana, die umgänglicher ist als ihr Ruf erwarten ließ und sogar an der blauen Feier vor dem Portal teilgenommen hat.

    Über den Verbleib der blauen Freiheitskämpfer der ersten Drachenwelt und Lydia habe ich leider nichts gehört. Vielleicht sind sie dem Vorschlag, welchen mir der graue Held im letzten Jahr machte, gefolgt und haben sich zu den Küsten aufgemacht, um auf den blauen Weiten der See ihre Freiheit zu leben.

    Einzig eine Freiheitskämpferin war vor Ort, als wir in Elitawana ankamen: Vincenca Verani. Die Kapitänin der „Ira Solis“ aus unserer Drachenwelt, Streiterin für den blauen Drachen seit seinem Erscheinen und erste Richterin des blauen Lagers. Vorletztes Jahr habe ich mit ihr noch im „Durstigen Dolch“ gesessen und über meinen Beitritt zu „Tiefseeblau“ gesprochen – kurz bevor sie verschwand. Jetzt war sie hier. Eine Gefangene des Hexers.

    Ihr Körper, seiner Organe beraubt und versteinert, schütze einen Zugang zu einem Monster, welcher einen Seelenstein Auroras bewachte. Ihre Organe wurden in verschiedenen Ritualen genutzt und der größte Teil ihrer Seele war ihrem Körper entrissen worden. In einem Seelengefängnis, in dem auch ein grüner Held und die Mutter von Inat Laron eingekerkert waren, wurde sie seit Monden gefoltert. Unvorstellbar, welches Leid sie in dieser Zeit erfahren musste. Ehrensache, dass dies eine blaue Angelegenheit war. Vornehmlich die Crew von Vincenas „Ira Solis“ und Kapitän Vizharent mit seiner Mannschaft kümmerten sich darum, denn auf uns Blaue warteten noch weitaus mehr Aufgaben.

    Nachdem ich schon vor vielen Jahren in Weltenwacht während des Gerichts über Inat Laron Leibwächter von Arina, der im letzten Jahr verstorbenen Stimme der Zeit war, wurde ich als blauer Vertreter zur Eröffnung ihres letzten Willens geholt. Sie als Priesterin aller Drachen war damals die Erste, welche die Existenz des blauen Drachens anerkannte. Gedenk dieser Anerkenntnis übertrug sie uns zwei Aufgaben.

    Gemeinsam mit Vertretern vom weißen Drachen und vom Wandel sollten wir die Gestaltung ihres Grabes anleiten. Eine Aufgabe, die ich an meine Matrosin Skua und an Cassy von der „Grinding Moon“ deligierte. Gemeinsam mit Vertretern der anderen zwei Lager haben sie diese Aufgabe zu einem schönen und Arina angemessenen Ende gebracht. Ich selbst habe später noch einige Hutkarten – vom blauen Drachen, vom blauen Herz und von der Kraken – auf dem Grab abgelegt und ihrer gedacht.

    Meine Passagiere Corvo, der Geschichtenerzähler, und Skadi, die Kuriositätensammlerin, haben derweil mit einigen Anderen versucht mit Aurora zu sprechen. Sie hatten Marzipan, die Lieblingsspeise der jungen Stimme der Zeit, dabei. Was sie jedoch nicht geplant hatten war, dass sie das alte Wiegenlied Auroras mit vortragen mussten – gefühlte vierhundert Mal, wie sie erzählten. Lächelnd nippe ich ein weiteres Mal an meinem Portwein. Gut, dass ich das nicht mitmachen musste.

    Die zweite Aufgabe, die uns Blauen Arina in ihrem Testament zudachte war dazu bestimmt Aurora von den Ketten zu befreien, welche die Einflüsterungen des Hexers ihr angelegt hatten. Ein Amulett, welches wir aus ihrem Nachlaß erhielten, sollte mit dem Gedanken der Freiheit aufgeladen und ihr umgelegt werden. Eine Aufgabe, die ich nach einem Gespräch mit Elizabeth und Kapitän McShorty zur Koordination in die Hände von Letzterem legte. Einem Mann, der schon als Kodexwächter des Blauen Lagers im letzten Jahr seinen Wert mir gegenüber mehrfach bewiesen hatte.

    Weitere Gedanken an diese Aufgabe schlucke ich erstmal mit einem großen Schluck Portwein hinunter, bevor ich das Glas wieder fülle. Da war die Aufgabe des Schutzes des Urstroms viel erfreulicher. Der Fürst der Noratis, der später vom Hexer korrumpiert wurde, hatte mich darauf hingewiesen, dass der Urstrom nicht vor dem Hexer geschützt sei und dieser Schutz nur durch ein Gebet an alle Drachen erfolgen kann.

    Das war viel Laufarbeit. Mit einem Stirnrunzeln blicke ich hinüber zu meinen Stiefeln, deren Sohlen sich zu einem großen Teil abgelöst haben und dringend einen Schuster benötigen. Gut, dass Rahad mit dabei war – er hat viel Lauferei übernommen und war oft mit dem rettenden Becher Wasser zur Stelle, wenn ich in irgendwelchen Besprechungen saß.

    Für diese Aufgabe stand Chloe als angehende Priesterin des Blauen ganz oben auf der Liste, wie ich auch El Gar für den Grünen und Mishra für den Grauen zur Besprechung in die Taverne bat. Letztendlich waren fast alle Drachenvertreter und der Wandel dort versammelt und mit Sahar von der goldenen Akademie übernahm ein erfahrener Mann die Leitung des Ritus, der am Vormittag des folgenden Tages erfolgreich durchgeführt wurde.

    Während der Portwein meine Kehle hinunter rennt stelle ich fest, dass ich in Elitawana viel weniger des guten Getränkes zu mir genommen habe, als es zu vermuten gewesen wäre. Ein Indikator dafür, dass ich viel unterwegs war und viele Gespräche geführt habe. Von den Treffen in der goldenen Akademie bis zu den leider viel zu kurzen Unterhaltungen mit Diplomaten und Lagerräten anderer Drachenlager, wie Grün, Gold und Grau.

    Doch ich bin sicher, dass es nicht nur mir so ergangen ist. Auch die anderen Anhänger des Blauen Drachen waren ständig unterwegs und gemeinsam haben wir viel bewegt. Ich bin stolz auf die Frauen und Männer, die unter der Fahne der Freiheit dieses Mal einig und unbeugsam der Verantwortung gegenüber der ersten Drachenwelt gerecht geworden sind.

    Nach einem Räuspern nehme ich nochmal einen großen Schluck Portwein. Abgesehen von einem düsteren Schatten, der sich auf unser Handeln gelegt hat. Ein Leichentuch, das Alles, was zuvor geleistet worden war, innerhalb kürzester Zeit der Vergessenheit anheim fallen ließ. Zuvor noch ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft der Drachengläubigen wurden wir über Nacht zu Ausgestoßenen, die sich schon am Galgen baumeln sahen.

    Das kurz nach Mitternacht durchgeführte Ritual, um den Anhänger Arinas mit blauem Freiheitswillen aufzuladen, scheiterte grandios. Nicht nur, dass der Anhänger nicht aufgeladen wurde – der Hexer konnte sich Zugang in den Ritualkreis verschaffen und nahm alle Drachensiegel auf der Stele mit sich. Ein herber Rückschlag, nach dem allen Blauen die Enttäuschung tief in die Gesichter geschrieben stand. In dieser Nacht saß ich noch mit den Kapitänen McShorty, Vizharent und Petersen zusammen bis der Himmel sich aufhellte.

    Mit nur wenig Schlaf habe ich mit vielen Leuten über die Geschehnisse der Nacht gesprochen, damit wir nicht von einem Lynchmob aufgeknüpft wurden. Ich war bei den Eichentemplern aus dem Silbernen und bei der goldenen Akademie, sprach mit den Noratis und mit dem Schild der Schöpfung. Zuletzt war ich noch beim goldenen Hohepriester, der mir erzählte, dass eine Person in unserem Kreis wohl in seinem Geist Aurora gerufen hatte und so der mit ihr verbundene Hexer Zugang erhielt.

    Auch wenn ich indessen erfahren habe, wer in diesem Kreis dafür verantwortlich ist, habe ich nur mit Kapitän McShorty darüber gesprochen und wir waren uns einig: dieses Wissen werden wir in einer Truhe einsperren und am tiefsten Punkt des Meeres mit einer Kanonenkugel an der Truhe versenken. Wir segeln gemeinsam und wenn wir Fehler machen, dann werden wir gemeinsam untergehen. Die Blauen stehen zusammen!

    Ich hebe meinen Becher. „Auf die Blauen!“ Ein Schluck und ich fülle den Becher abermals. Auf dem Etikett der Flasche betrachte ich kurz das Wappen von Yddland, meinem Handelspartner. Bei allen Klabautern – ich hatte doch glatt vergessen Rätsel anzusprechen, denn ich meine ich hätte an ihrem Gürtel auch das Wappen von Yddland gesehen. Ich zucke mit den Schultern: Man sieht sich doch meist zweimal im Leben. Mindestens.

    Leider, denn es gibt auch Leute, auf die man echt verzichten könnte. Und ganz oben auf dieser Liste steht der Hexer. Der Mann, in dessen Kopf ich mich kurz vor dem gescheiterten Ritual wiedergefunden habe – gemeinsam mit einer Ceridin und einem Darpatbullen. Er schien überrascht uns dort zu sehen und auf seine Frage, was wir wollen, antwortete ich mit „Wissen sammeln“. Warum auch immer gewährte er mir drei Fragen, auf die er wahrheitsgemäß antworten würde.

    „Wo warst Du, als der Graue die erste Drachenwelt in der Zeit verschob“ war meine erste Frage, die er mit „Im Pantheon“ beantwortete. Meine zweite Frage war nicht, wer seine Eltern waren, sondern wann sie waren. Der Hexer antwortete, dass er älter sei als die Drachen.

    Nachdem er den Darpatbullen aufforderte die Ceridin zu erwürgen und ihm sagte, dass er die freie Wahl hätte dies zu tun oder er ihn zwingen würde, sagte ich ihm, dass dies nicht Freiheit wäre, da er sich ja als „der Befreier“ bezeichnen würde. Wieso er diese Bezeichnung gewählt hätte.

    Er ließe sich nicht in einen Namen, eine Farbe oder in eine Form pressen, war seine Antwort. Nicht er selbst, sondern seine Anhänger haben ihm den Namen „Befreier“ gegeben, so wie er in früheren Zeiten schon andere Namen gehabt hätte und auch in Zukunft noch andere Namen haben wird.

    Nachdem er uns aus seinen Kopf gebeten hatte sprach ich lange mit Mishra und nach vielen Rückfragen zu Details bei den Hohepriestern haben wir indessen eine Theorie zur Herkunft des Hexers. „Als die alten Götter fielen zerbrachen sie in viele Splitter“ ist eine ebenso belegte Überlieferung, dass des Hexers Eltern keine Namen hatten. In alter Zeit fielen wohl zwei große Steine vom Himmel, welche dann „Vater“ und „Mutter“ genannt wurden. Der Vaterstein ist – bearbeitet – die heutige Drachenstele.

    Aus einem oder mehreren dieser Splitter entstand er, den wir heute Hexer nennen. Er war der Vater der alten Götter. Irgendwann kamen die Drachen und er wurde mit seinen Kindern aus dem Pantheon vertrieben. Seitdem arbeitet er daran die Drachen zu stürzen. Es begann sicher vor langer Zeit, doch erstmals für uns in Erscheinung trat er als Berater von Inat Laron.

    Bis dahin war die erste Drachenwelt in verschiedene Länder gegliedert, welche von unterschiedlichen Drachen beherrscht wurden. Ein über lange Zeit stabiles System, welches erst zusammen brach, als Inat Laron, von seinem Berater beeinflusst, begann alle Länder unter der Herrschaft des Kupfernen zu erobern. Dies wurde vereitelt und der Priesterkönig vor Gericht gestellt. Unter welchem Einfluß die Kaiserin von Weltenwacht auch gestanden haben mochte: sie verurteilte ihn zu einer Verbannung in die Niederhöllen.

    Damit wurde erstmals ein Portal zu einem widernatürlichen Verließ der alten Götter geöffnet. Alte Götter, die sich erhoben und letztendlich zum Untergang von Weltenwacht führten. Ich kann mich noch gut an den Tod der Kaiserin erinnern und wie Milla, Matt Jess und ich ihr im Namen des Blauen das letzte Geleit gaben. Ebenso erinnere ich mich noch lebhaft an unsere Flucht aus der dem Untergang geweihten Stadt.

    Dieser Untergang hat die Schwäche der Drachen offenbart und der Hexer konnte sowohl an Macht als auch an Unterstützung im Volk hinzu gewinnen. Sein Anspruch ein Gott zu sein mag nicht falsch sein, doch es ist ein Gott, der keine Liebe kennt. Seine Kreaturen in den Farben der Drachen haben so auch nur die Aspekte der Drachen, die keine Liebe benötigt. Der blaue Weg hätte in seiner Vorstellung sehr viel Gier, aber sicher keine Verantwortung für die Freiheit anderer und erst Recht keine Lebensfreude.

    Genug Gründe, um gegen den Hexer und seine Anhänger vorzugehen. Doch die Erkenntnis, dass es sich wirklich um einen Gott handelt, macht diese Aufgabe nicht einfacher und auch ich bin fern von jeder Lösung. Denn es scheint auch Niemand zu wissen, wie vor Äonen die alten Götter gestürzt wurden.

    Bis dahin bleibt uns nichts Anderes übrig, als einen Schritt nach dem Anderen zu gehen. Das hieß nach dem mißglückten Ritual erstmal die Siegel zurück zu beschaffen. Vereinfacht wurde dies, da der Hexer wenig damit anzufangen wusste und nicht die Kraft besaß diese zu zerstören. So konnten sie zurück gehandelt werden. Eine Aufgabe, bei der wir von der „Kraken“, in erster Linie Skua, den Silbernen halfen.

    Auch das Amulett wurde in einem Ritual aufgeladen, an dem Vertreter aller Drachen und des Wandels ihre Gedanken zum Weg der Freiheit erzählten. Ich hatte die Ehre in diesem Ritual den blauen Weg zu vertreten. Habe dem Amulett und damit hoffentlich auch Aurora erzählt, wieso ich den blauen Weg gehe und dass er bedeutet, dass man sich nicht vorschreiben lässt, wie man sein Leben lebt. Wie man denkt, spricht und handelt. Aber ich habe auch von der damit verbunden Verantwortung berichtet.

    Wie genau Vincenca letztendlich wieder zurück geholt wurde kann ich gar nicht sagen, da ich nicht zugegen war. Doch sie haben sie zurück geholt und dann hat ihre Crew sie gemeinschaftlich erschossen – so wie es ihr Wunsch war. Denn Nekromantie war für uns Blaulageristen nie eine Option. Ich erhebe meinen Becher auf die Kapitänin, deren Seele nach Berichten von Anwesenden in die blauen Gefilde gesegelt ist.

    Mit meiner Crew begleitete ich Kapitän McShorty, der Aurora das Amulett geben sollte. Diese war indessen an der Seite des Hexers aufgetaucht und die Schlacht war indessen entbrannt. Im Hof der Burg sprang McShorty dann beherzt vor, um Aurora die Kette umzulegen. Die meisten von uns, auch ich, waren zu dem Zeitpunkt vom Hexer versteinert worden. Doch man erzählte mir später, dass es ihm nicht zur Gänze gelang und sie die Kette dann in Händen hielt. Auch später habe ich den Anhänger nicht an ihr gesehen.

    Wieder beweglich wichen die kurzen Zweifel, was nun zu tun sei, einer blauen Entschlossenheit. Wir müssen nah an Aurora heran kommen und den Hexer ablenken, um mit ihr zu reden. So bahnten wir uns den Weg in die Schlacht, weit reichte das Tempre von Cassys Stimme und schon bald sangen alle das alte Shantie „Old Chariot along“. Das Lied, das wir schon beim großen Ausmarsch auf dem Fest der Drachen gesungen hatten.

    Hinter den Schlachtreihen warteten wir singend auf den Moment, in dem sich eine Lücke öffnen und einen Weg zu Aurora offenbaren würde. Jeder Blaue war bereit sich als Teil der Sturmflut in die Reihen des Feindes zu stürzen, um den beiden Erstdrachenweltler, die sich für den blauen Weg entschieden hatten und in deren Land Aurora geboren war, den Weg zur Stimme der Zeit zu bahnen. Jeder war bereit dafür sein Leben zu geben.

    Doch dazu kam es nicht, denn plötzlich kam Regismund, Lagerrat des Grauen Lagers, auf das Schlachtfeld gestürmt und rief uns Blauen zurück zu Burg und Tempel. Wie ein Mann, ohne Zaudern und Zögern, sprangen wir auf und rannten zum Tempel. Aye: rannten! Die Wachen vor dem Tor bildeten für uns eine Gasse und mich verwundert noch immer, dass McShorty und ich als Erste durch das Tor stürmten. Schließlich sind wir beide vertikal herausgefordert und haben nicht unbeding die längsten Beine.

    Scheinbar wäre es aber gar nicht so eilig gewesen, denn vor Ort hatten wir erstmal Zeit zu verschnaufen. Den Drachen sei Dank, denn etwas Luft holen war eine ganz gute Idee. Eine solche Strecke zu sprinten ist man ja als Seemann nicht gewohnt, denn sie war um Einiges länger als die Distanz vom Heck zum Bug der „Kraken“. Außerdem sollte ich nicht versuchen zu Laufen und weiter zu singen.

    Über die eigene Dämlichkeit verwundert schüttele ich meinen Kopf und nehme noch einen Schluck Portwein. Während ich im Innenhof versuchte nicht einem Schlagfuß zu erliegen war im Tempel der sphärische Teil von Aurora aufgetaucht und man hatte ihr den Seelensplitter, den das indessen besiegte Monster aus dem Portal hinter der versteinerten Vincenca mit sich geführt hatte, gegeben. Irgendwie scheinen wir nicht gewonnen, aber auch nicht in allen Bereich verloren zu haben.

    Der Hexer ist zumindst abgezogen. Mit ihme seine Gefolgsleute und ihre Truppen. Grund genug sich mit den Blauen mal etwas dem Aspekt der Lebensfreude zu widmen. So saßen wir noch lange zusammen und haben gesungen, während die Flaschen kreisten. Wir mögen in unserem Handeln und erst recht in der Auslegung des blauen Weges, den ich mit Erik Petersen beim Fest der Drachen auch noch mal ausdiskutieren werde, sehr unterschiedlich sein, aber der blaue Weg eint uns. Diese Einigkeit haben wir in diesen Tagen gelebt und auch sie ist es, die mich immer wieder dem Ruf des Blauen Drachens folgen lässt.

    Ich reibe mir die Augen. Es ist so viel geschehen. Über so viel wurde geredet. So viele Gedanken, dass der Kopf davon zu platzen droht. Auch wenn die Diplomatie nicht zu den einfachsten Aufgaben auf dem Fest der Drachen zählt, so freue ich mich schon auf diese im Vergleich zu den Geschehnissen in Elitawana simple Angelegenheit.

  • Aus den Heckscheiben blickt Askir auf die See hinaus. Die Sonne war schon unter der Kimm verschwunden und der Himmel ist in die unterschiedlichsten Blautönen getaucht. Askirs Körper folgt wie selbstverständlich dem Rollen und Stampfen des Schiffes, das mit geblähten Segeln durch die See schneidet. An seine Ohren dringt das Knarzen des Holzes, das Knirschen der Taue, die Rufe der Seefahrer und die Geräusche von Füßen auf dem Deck über seinen Kopf.

    Endlich wieder auf See. Endlich wieder unterwegs auf der Weite des Ozeans. Endlich wieder auf Fahrt mit seiner „Knurrhahn“. Ohne Angst auf das nächste Schiffsunglück, denn Efferd bestimmt über unser aller Schicksal und er entscheidet über Wohl und Wehe auf See.

    Erst wenige Tage war Askir aus Elitawana zurück in seine Zeit und seine Welt zurück geworfen worden, als seine Schivone „Knurrhahn“ in den Hafen von Brabak einlief. Unmissverständlich ein Zeichen.  Eigentlich für die Handels-Compagnie auf Handelsfahrt unterwegs hatte Askir das Schiff kurzentschlossen für sich mit neuer Order versehen.

    Nun segelt die Galeone mit Kurs über die Zyklopeninsel zu den Drachenlanden.  In der Hoffnung, dass sich auf dem Kurs die Silhouette der Galeasse „Gorgon“ über der Kimm zeigt. Dem Schiff von Kapitän Don Arktos, auf dem sich Askir auf der Fahrt in die Drachenlande schon öfter als Rudergänger anheuern ließ. Am Ruder eines Schiffes voller alter Kameraden und Freunden in die Drachenlande zu segeln klang immer noch gut.

    Der Mann, der das Gefühl hat, das sein ohnehin schon bewegtes Leben abermals mit zielstrebigem Kurs auf den nächsten Sturm zusteuert, starrt weiter in die einsetzende Dunkelheit. Einer Metapher, wenn er an die Ereignisse in Elitawana zurück denkt: Die Erschaffung der pervertierten Avatare der Drachen. Möglicherweise hätte es schlimmer kommen können, aber nur wenig war jemals so weit von einem Sieg entfernt.

    Sie hatten verloren. Der Hexer hatte sein Ziel erreicht. Es waren Avatare in den Kreis gerufen worden, welche die dunklen Seiten der Drachen in sich vereinten. Doch das erste Mal war Askir froh, dass der Blaue Drachen in der ersten Drachenwelt noch nicht erwacht war. Die Gier wurde bei der Erschaffung des schwarzen Avatars verortet, doch es gibt keinen Gegenavatar zum Blauen.

    Und nicht zum Wandel. Wenn dem Steinmetz von Elitawana, der schon mehr als ein Menschenalter zu leben scheint, zu trauen ist, dann ist der Drache des Wandels dabei zu erwachen. Das Chaos, das immer seine Eigenständigkeit ohne Drachen betont hat, würde damit als Lager des ewigen Wandels mit einem Drachen am Wettkampf teilnehmen.

    Ein leichtes Lächeln kann sich Askir nicht verkneifen: Das könnte einige Chaospriester in Deutungsschwierigkeiten bringen und interessant werden. Doch letztendlich spielt der Name oder das Wesen eines Avatars nur eine untergeordnete Rolle, wenn sich dort weiter Dämonenpaktierer herumtreiben.  Er reibt sich die Augen. Und dann ist da noch die Sache mit Harold …

    Doch aus den Nebelschwaden schlechter Nachrichten gleitet ein Schiff hervor, dass sich Hoffnung nennt. Am Masttop des Schiffes weht die Fahne der Freiheit. Eine Hoffnung, die ebenfalls in Elitawana neue Nahrung erhielt.

    Er war in einer Vision dabei, als die Freiheit in der ersten Drachenwelt aus einem hohlen Wort zu einem Aufruf zur Tat wurde. Als sich die ersten Frauen und Männer im Geheimen zusammen fanden, um die Freiheit für sich und Andere zu erkämpfen. Sie übernahmen die Verantwortung und handelten. Sie überfielen Ortschaften nicht zum Plündern und Töten – nur der Freiheit der dort festgehaltenen Sklaven galt ihr Streben.

    Dieser Freiheit hatte sich Askir auch verschrieben, als er sich vor einigen Jahren von Tiberius Graufuchs mit dem Wasser aus dem Kraftplatz des Blauen Avatars taufen ließ. Er erinnert sich auch daran zurück, als viele Blaulageristen vor dem Avatar Zeugnis ablegten über den Grund ihres Kommens:  nicht wegen der Gier, wegen der sie sich im Lager fortlaufend gegenseitig bekämpfen müssten, sondern wegen dem unbändigen Willen zur Freiheit.

    Das war auch zentrales Thema, als Askir in Elitawana dem grauen Helden den blauen Weg erklärte. Dass selbst die Halsabschneider, die dem Weg des Blauen folgen, um den Wert der Freiheit wissen und auch die Verantwortung kennen, die dieser inne wohnt. Als Ausgleich zur Tyrannei des Kupfernen sind wir es, die den Einzelnen, seine Träume und Wünsche, vor dem Zwang bewahren.

    „Wir haben natürlich Handelsfahrer und Piraten“, sprach daraufhin sinngemäß der graue Held. „Aber auf der weiten See gibt es noch viel Platz und vor allem hinter den Inseln ist der Ozean noch unerforscht. Vielleicht wäre das ein Ort, an dem ihr die Freien hinführen könnt und sie frei sein können.“

    Die Weite des Meeres, die wilden Wogen und sanften Wellen, der stürmische und laue Wind, die launische See, der unbeugsame Ozean als neue Heimat der Freien in der ersten Drachenwelt. Ein Gedanke des grauen Helden, den Askir auch an Lydia, der wohl ersten Blauen aus den Einwohnern der ersten Drachenwelt, weitertrug. Und er sah das Leuchten in ihren Augen.

    Ein Lächeln umspielt seine Lippen. Bei allen schlimmen Ereignissen in Elitawana gibt es auch allen Grund für Freude und Hoffnung. Der Blaue Drache erwacht und der Ruf nach Freiheit wird immer stärker. Der Blaue Weg, die eigene Freiheit und die Freiheit Anderer zu erkämpfen und zu verteidigen und mit Verantwortung gemeinsam dafür einzustehen, gewinnt an Bedeutung.

    Jetzt gilt es noch diesen Gedanken auch beim Fest der Drachen festzuhalten, weiter zu tragen und mit Leben zu füllen.

  • Vor gut acht Monden hatte man Askir das letzte Mal im Hauptkontor der Handels-Compagnie gesehen. Er war damals gerade vom Fest der Drachen zurück gekehrt, zu dem er wieder als Rudergänger an Bord der „Gorgon“, einer von den Zyklopeninseln stammenden Galeasse unter dem Kommando von Don Arktos, gesegelt war.

    Der geschäftsführende Hauptgesellschafter der Compagnie hatte im Rondramond im Hauptkontor nach dem Rechten geschaut, die wichtigsten Angelegenheiten geordnet und einige Anweisungen gegeben, bevor er er die laufenden Geschäfte wieder dem Prokuristen Gwern Baernhold anvertraute. Das letzte Mal wurde er gesehen, als er als Passagier ein Schiff gen Süden bestieg – seitdem kein Lebenszeichen von ihm.

    Gwern Baernhold, der schon in die Jahre gekommene Prokurist der Handels-Compagnie, hatte schon Nachrichten an verschiedene Kaufleute geschickt, doch bisher erhielt er keine Nachricht, die etwas über den Verbleib seines Arbeitgebers oder des Schiffes, auf dem dieser als letztes fuhr, hätte berichten können. Dabei hätte es gerade jetzt Askirs Anwesenheit bedurft, hat er doch Unregelmäßigkeiten in den Büchern festgestellt. Unregelmäßigkeiten, über die er noch Stillschweigen bewahrt – selbst gegenüber den anderen Gesellschaftern.

    Doch auf Dauer kam er nicht umhin zumindest die Mitgesellschafter und die engsten Handelspartner darüber zu informieren, dass er derzeit keinen Kontakt zu Askir habe. Auch, dass dieser scheinbar auf See verschollen ist. Wenngleich der geschäftsführende Hauptgesellschafter immer viel auf Reisen war, so war doch niemals eine solch‘ lange Zeit vergangen, ohne dass es eine Nachricht gegeben hätte. Genug Grund für Gwern sich Sorgen zu machen.

    Doch über eine Erbfolgregelung braucht man noch nicht nachenken, denn bevor die Efferd-Kirche Askir für Tod erklärt werden drei mal drei Jahre vergehen. Drei Jahre für die Hinfahrt, drei Jahre für das dort bleiben und drei Jahre für die Rückfahrt – so lange kann eine Seefahrt dauern. Doch da das Schiff, auf dem Askir fuhr, nicht am Zielhafen angekommen ist, sieht Gwern den Tag näher rücken, an dem die verbliebenen Gesellschafter einige Entscheidungen treffen müssen …


    Zurück vom Ostercon und in Vorbereitung auf das anstehende „Zeit der Legenden“ habe ich überrascht festgestellt, dass ich Askir wirklich seit dem letzten Drachenfest nicht mehr gespielt habe. Geschockt war ich von der Erkenntnis, dass das Drachenfest letztes Jahr sogar das einzige Con war, bei dem ich mit Askir unterwegs war. Eine Wechselwirkung mit der Depression, die mich in Form eines Burnouts wieder eingeholt hat, ist nicht ausgeschlossen.

    Gleichzeitig gibt mir die lange Zeitspanne aber auch die Möglichkeit den Charakter weiter zu bringen, neu auszurichten. Einen neuen Kurs zu bestimmen und die Segel neu auszurichten. Denn ich habe mir indessen eingestanden, dass ich mit meinem Hauptcharakter derzeit einem Kurs folge, der mir nicht liegt. Was eine gute Idee dünkt, kann sich im Spiel als eine wenig optimale Lösung gegen die Flaute heraus stellen. Und was einem nicht liegt, kann man meiner Erfahrung nach auf Dauer auch nicht darstellen.

    Es wird sich was ändern. Askir wird sich ändern. Er wird auf einem neuen Kurs segeln. Die Segel sind noch nicht gesetzt, aber die ersten Toppgasten sind schon in den Wanten. Die letzten Entscheidungen fallen derzeit und ich hoffe sie sind besser, als die früheren. Doch alles hat seine Zeit – und jetzt ist die Zeit. Nicht für etwas ganz Neues, aber für was Anderes.

    Ergo: Es gibt Planungen. Ideen. Und in den nächsten Tagen wird auch wieder etwas Stoff bestellt. Ganz ohne geht es ja auch nicht. 😉

  • Zurück in Nalleshof. Zurück im Hotel „Zum gelben Mond“. Zurück in seinem Zimmer. In weiser Voraussicht war es für einen längeren Aufenthalt im Voraus bezahlt worden, so dass auch der Hauptteil von Askirs Vermögen in Münzen noch in der Kiste war, in der er es zurück gelassen hatte. Er warf seine dreckige und wiederwärtig riechende Kleidung auf den Boden und wusch sich mit dem kalten Wasser der Waschschüssel. Er wusch den Dreck und den Gestank Orkendorfs von sich ab, bevor er sich neue Kleidung anzog. Ein zweites Mal in seinem Leben ließ er damit Orkendorf hinter sich – und hoffte es sei nun endgültig das letzte Mal.

    Nach einem kräftigen Mahl im Schankraum führten ihn seine Schritte zum Seehafen. Am Kai blieb er stehen und blickte auf das Wasser, auf dem etliche Schiffe lagen und ihre Waren löschten. Hinter ihnen die Boroninsel, die selten ein Havener Bürger lebend betrat, noch dahinter das Stadtviertel Fischerort. Tief atmete Askir die salzige Seeluft ein. Es roch nach Heimat. Es war Zeit wieder an einen Aufbruch zu denken. Er hatte sich nun länger in Havena gut gehen lassen, doch hinter der Kimm warteten einige Tavernen, die er mal wieder besuchen sollte. Doch besonders warteten dort Freunde auf ihn. Freunde? Ja, er war selbst etwas über sich verwundert, dass er diesen Begriff genutzt hatte.

    Mit dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen steuerte er am Kai entlang einen mehr oder weniger geraden Kurs zur Hafenmeisterei – das Pergament in seiner Tasche im festen Griff. Seine Schritte waren beschwingt und der Wind wehte von achtern.

    Nach einiger Zeit des Wartens kam auch er in der Hafenmeisterei an die Reihe und zeigte sein Pergament, welches er an Bord der Rhetis gewonnen hatte, vor. Das Rascheln der Pergamente in den Büchern der Hafenmeisterei war die Folge seines Begehrens. Es dauerte etwas, bis man die Eintragung über die bornländische Schivone „Pelikan von Festum“ gefunden hatte. Noch etwas (und einige der größeren Münzen von Askir) später waren die Papiere geändert, die Namen in den Büchern geändert. Auch wenn sich Askir wieder einmal seines fehlenden Nachnamens bewusst geworden ist, da er sich während des Verwaltungsvorgangs seltsamer und zweifelnder Blicke des Hafenmeisters ausgesetzt sah, wurde er freundlich verabschiedet und mit guten Ratschlägen überhäuft verließ er das Haus.

    Um einige Pergamente reicher blickte er sich unter den im Hafen liegenden Schiffen um, vermochte aber die Schivone, die als Geleit- und Konvoischiff aus dem Bornland kommend hier Anker geworfen hatte, nicht zu auszumachen. Kein Wunder, lagen doch etliche Schiffe – unter ihnen auch einige Schivonen – in dem Hafenbecken. So winkte Askir einen Fährmann mit seinem Boot heran. Schnell war man sich einig und mit kräftigen Ruderstößen pullte der alte Mann sein Boot durch das Wasser. In der Heckducht sitzend blickte Askir sich um und schon bald sah eine Schivone, auf die das Fährboot direkt zuhielt. Auf ihrem Heck prangte in gelben Lettern der Name des Schiffes: „Pelikan von Festum“.

    Fest drückte Askir die Unterlagen, die vor dem Wasser geschützt unter seinem Mantel verborgen waren, an sich. Auch wenn er lange von einer Thalukke geträumt hatte, hatte er doch nie geglaubt, dass sein Traum sich zumindest in diesem Teil bewahrheiten würde. Er war sich bewusst, dass dies nicht umsonst gewesen ist und ihn in Zukunft wohl neue Aufgaben erwarten werden. Doch Nichts, worüber er sich weiter Gedanken machte, als er die Leiter an der Längsseite erklomm und seinen Fuß auf das Deck des Schiffes stellte. Das Schiff, das zumindest in den Büchern der Hafenmeisterei und in seinen Papieren schon seinen neuen Namen trug: „Knurrhahn von Havena“.

  • Leise ließ Rhys die Tür des Hauses hinter sich ins Schloss fallen. Der enge Flur lag voller Unrat und auch hier waren die Wände feucht und von Schimmel bedeckt. Selbst ohne sein Wissen in der Heilkunde hätte Askir gewusst, dass das nicht gesund sein kann. Vorsichtig, ohne unnützes Knarzen zu vermeiden, setzte er auf den Stufen der Stiege einen Fuß vor den Anderen. Aufmerksam lauschte er, in der Hoffnung etwas zu hören, dass ihn zu seinem Ziel führt. Immer höher führte ihn sein Weg über die Stiege. Vorbei an Türen, hinter denen es still war. Vorbei an einer Tür, hinter denen das Schnarchen eines Mannes zu vernehmen war. Vorbei an einer Tür, hinter denen Kinder plärrten und die Stimmen der entnervten Eltern zu hören waren. Vorbei an einer Tür, hinter der ein Paar sich gerade seiner Lust hingab.

    Erst, als er fast das letzte, unter dem Dach gelegene Treppenpodest erreicht hatte, hörte er den gröhlenden Gesang eines betrunkenen Mannes: „Wer mit Niall will auf große Fahrt gehen, das müssen Männer ohne Skrupel sein.“ Während Rhys näher an die Tür heran schlich verstummten die Mißtöne. Kurze Zeit war es still, bevor ein lautes Rülpsen ertönte. „Diener. Er schließe die Tür.“ Ein Ton, wie bei einem Schluckauf war zu vernehmen. „Verdammich, hab‘ ja noch gar keinen Diener.“ Es blieb eine Weile still und Rhys schob seinen Kopf in die Türöffnung, um einen Blick in den Raum zu werfen. Es war – wie nicht anders zu erwarten – eine heruntergekommene Absteige. Niall stand schwankend in der Mitte des Raumes vor seiner Lagerstatt. Den Hut, Mantel, Weste und das Hemd hatte er schon ausgezogen und auf sein Bett geworden.

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    Rhys hatte die Situation noch gar nicht zur Gänze erfasst, als der Mann kurz verharrte, bevor er sich mit schnellem Schritt zu einer Ecke des Raumes bewegte. Dort kniete er vor einem Eimer nieder und erbracht sich in denselbigen. Noch während Niall würgte betrat Rhys – die Situation ausnutzend – das Zimmer auf möglichst leisen Schritten. Er nahm einen Holzschemel zur Hand und stellte sich hinter den Knieenden. Als dieser zu Ende gewürgt hatte und nur noch Galle nach Außen brachte, begann sich der Betrunkene zu erheben. Dies war der Augenblick, in dem Rhys weit ausholte und mit seiner ganzen Kraft den Schemel auf den Schädel des Räubers niederschmettern ließ. Dieser sackte ohne ein weiteres Wort neben dem Eimer zu Boden.

    Zufrieden lächelnd schritt Rhys zur Tür und schloß sie. Zufrieden streichelte er über seinen Säbel, der auf der Innenseite der Tür in seinem Gehänge gehangen hatte. Dann entkleidete er Niall und warf die Sachen zu den Anderen aufs Bett. Ein lose herum liegendes Tuch riss er in Streifen und mit geübten Handgriffen fesselte er den Mann, wobei etliche Seefahrerknoten zum Einsatz kamen. Der so Verschnürte und Geknebelte saß bald an einer Wand gelehnt in einer Zimmerecke. Rhys ließ sich nun Zeit das Zimmer nach Wertvollem und Brauchbarem zu durchsuchen. Es wunderte ihn nicht, dass sein Beutel mit Münzen lange nicht mehr so schwer war, als zum Zeitpunkt des Raubes. Doch wichtiger war das Pergament, welches er wohlbehalten in seiner Manteltasche fand.

    Nachdem er sich der Lumpen, die er in Orkendorf beschafft und getragen hatte, entledigt hatte, setzte er sich – nur in Bruche – auf das Bett. Er griff zu der Flasche auf dem Boden, die noch zu gut der Hälfte gefüllt war, und nahm einen Schluck. Es war der gute Selbstgebrannte aus dem „Krähennest“. Ein zufriedenes Lächeln lag auf seinen Lippen und er schloss für einen kurzen Moment die Augen. Dann legte er sich zurück und wenig später war er erschöpft eingeschlafen – und er das Getrampel von Niall weckte ihn einige Stunden später.

    Schlaftrunken setzte sich Rhys auf und blickt zu dem Mann hinüber, der ihn hasserfüllt anstarrte. Rhys hob eine Braue hoch. „Sei froh, dass Du noch am Leben bist. Viele Andere hier wären nicht so nett gewesen und hätten mit Dir kurzen Prozess gemacht, wenn du sie niedergeschlagen und beraubst hättest.“ Dies schien den Räuber jedoch nicht zu besänftigen und es ist nur zu vermuten, dass seine unter dem Knebel nur undeutlichen Worte wüste Beschimpfungen waren. Rhys zuckte mit den Schultern. In früheren Jahren – und auch noch nach seiner Flucht aus Havena – hätte er diese Skrupel nicht gehabt und Niall läge jetzt in seinem eigenen Blut. Doch die Zeiten ändern sich. Langsam zog Rhys sich seine Sachen an. Den Hut in der Hand nickte er dem Räuber noch einmal kurz zu, bevor er sich sein Säbelgehänge über den Kopf streifte und das Zimmer verließ.

    Er eilte die Treppe hinunter und trat im frühen Licht des Morgens auf die Strasse. Rhys blickte sich noch einmal um und prägte sich das Elend und den Schmutz seiner Herkunft ein. Er sog die stinkende Luft von Orkendorf ein. Ja, die Zeiten hatten sich geändert. Rhys betrachtete kurz den Dreispitz in seiner Hand und setze ihn schwungvoll auf sein Haupt. Dann verließ Askir Orkendorf ohne noch einmal zurück zu blicken.

  • Vor dem Eingang der Taverne verharrte Rhys nur kurz, bevor er sich auf die Mitte der Kreuzung stellte, um in alle Richtungen zu blicken. Ein gutes Stück weiter die Strasse in Richtung Praios hinunter konnte er noch einen kurzen Blick auf den Mann erhaschen, der seinen Mantel und Hut trug. Er bog nach Links in eine andere Straße ein. Rhys eilte die Strasse hinunter, wobei er sich bemühte schnell zu sein, sich im Schatten der Häuser zu halten und nicht in jedes mit Müll und Ausscheidungen gefülltes Rinnsaal zu treten. Dabei gelang ihm die Schnelligkeit gut, das im Schatten halten mäßig und das Ausweichen selten. Kurz vor der abbiegenden Gasse hielt er kurz an, atmete tief durch und griff das Messer in seiner Tasche fester. Auch wenn es sich dabei nur um ein kleines Alltagsmesser handelte, war es doch besser als Nichts.

    Er spähte um die Ecke, doch war die Gasse augenscheinlich leer. Rhys suchte seinen Atem zu beruhigen und zu lauschen. Doch es war kein Geräusch zu hören, das er direkt mit dem Verfolgten, dem Räuber mit Namen Niall, in Verbindung hätte bringen können. Doch er konnte auch nicht ausschließen, dass sein lautes Atmen während des Spurts oder die klatschenden Schritte seiner nackten Füße die Aufmerksamkeit dieses Nialls erregt hat. Abermals suchte er die Straße, im Besonderen die Schatten ab. Doch jeder Schatten hatte den Umriss, den er haben sollte und nichts Verräterisches konnte er entdecken. Langsam und vorsichtig, das Messer weiterhin in der rechten Hand, betrat Rhys die Gasse, nach allen Seiten spähend. Er hielt sich im Schatten der Häuser, während das Rad des Madamals seine Suche begünstigte. Doch er hatte Niemanden entdecken können, bis er am Ausgang der Gasse, wo sie auf einem großen Platz endete, anlangte.

    Er zog sich wieder etwas in den Schatten der Gasse zurück. Erschöpfung und Frustration lag schwer auf seinen Schultern, so dass er sich mit dem Rücken an eine Wand anlehnte. Er war so nah daran gewesen. An dem Dieb, der ihn so feige von Hinten niedergeschlagen hatte, als er in Nalleshof eine Schlägerei umgehen wollte. Dem Dieb, der ihn nur mit Bruche und Leibhemd bekleidet in einem stinkenden Rinnsaal in Orkendorf niedergelegt hatte. Ihm seine Kleidung, einige seiner Münzen und vor allem die Besitzurkunde, die er im Spielsalon der „Rhetis“ gewonnen hatte, genommen hatte. So kurz davor.

    Rhys rutschte an der Wand entlang zu Boden. Kurz hatte Phexens Glück ihm gewunken, als er in der Taverne war. Jetzt hatte ihn ebendieses Glück ihn wieder verlassen. Er hatte fünf gute, glückliche Jahre gehabt, in denen er sich immer weniger Sorgen machen musste. Das Geld ist ihm förmlich zugeflogen und es hatte ihn nur wenig Schweiß gekostet. Rhys presste die Lippen aufeinander, als er sich fragte, was er jedoch als Dank dem Gott des Glücks dafür zurück gegeben hatte. Dem Gott, der all die Jahre den Glücksscheffel mehr als reichlich über ihn ausgeschüttet hatte. Dem Gott, der ihn damals in Galladoorn davor bewahrt hatte zu einem Untoten zu werden, wie es den Ungläubigen erging. Der Gott, der ihn auch mit Lilium zusammen geführt hatte, bevor ein Vogtvikar ihn sogar gefragt hatte, ob er sich in die Kirche einführen lassen wolle. Ein Angebot, auf das Rhys nie eingegangen war, weil es immer noch so viel Leben gab, das es zu genießen galt. So viel Zeit, die mit Genüßen gefüllt werden konnte.

    Rhys erhob sich langsam und blickte zum Himmel empor. So ohne viel Lichter und dunkel war Orkendorf, dass er trotz des Madamals die Sterne gut erkennen konnte. Fast unwillkürlich suchte er die Sternenbilder, die er – auch durch seine Jahre auf See – kannte. Er betrachtete die hell funkelnden, gleißenden Sterne, die für besondere Kostbarkeiten Phexens stehen. Er fragte sich, wie viele der Sterne Menschen waren, die Phex als Händler oder Dieb so gut gedient haben, dass er sie Boron gestohlen und als Stern leuchten ließ. Und ob er vielleicht auch eines Tages …

    Mit leiser Stimme began Rhys zu sprechen. „Phex, himmlicher Fuchs, Händler der Götter, einen Handel schlage ich Dir vor. Schenke mir nochmal etwas Glück und lichte den Nebel in dieser Nacht, so will ich mit meinen Mitteln die Schätze, die Sterne deines nächtlichen Firmaments mehren. Ich brauche Deine Hilfe, um das zurück zu gewinnen, was ich durch Dich erlangt habe. Gib‘ Du mir, was ich begehre – dann gebe ich Dir den entsprechenden Preis und meine Anbetung. Gib‘ mir einen Fingerzeig und lüfte das Geheimnis, wo er hin entschwunden, und ich will Dir ewig dienen.“

    Noch einige Zeit blickte er zu den Sternen empor, bevor er seinen Blick wieder gen Boden wandte. In den Augenwinkeln wurde er einem Zettel gewahr, der auf einer Haustreppe lag. Langsam erhob sich Rhys und beugte sich zu dem Stück Pergament hinunter. Es war eine Kriegsanleihe des Blauen Lagers, welche bis vor kurzem noch an seinem Hut geprangt hatte. Ein Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen, er blickte wieder zu den Sternen empor. Ein kurzes, dankbares Nicken, dann stieg er die Treppen empor und verschwand im Haus.

  • Als die Nacht langsam herein brach saß Rhys noch immer auf dem Kai und blickte zu den Schiffen hinüber. Seine Beine baumelten über der Kaimauer und sein Brot hatte er zur Gänze aufgegessen. Es war ruhiger geworden am Hafen, denn die Schauerleute hatten ihr Tagwerk verrichtet. Die Seefahrer, so sie nicht an Bord Dienst taten, waren in Richtung der Schenken von Nalleshof verschwunden. Das Madamal stand als volles Rad über den Dächern der Stadt und tauchte die Nacht in ein silbriges Licht. Diese Stunde nutzte Rhys und glitt erst aus seiner Kleidung, dann an einer in der Mauer eingelassenen Stiege hinunter ins Wasser.

    Das Wasser war kalt und stach wie spitze Dolche in seine Haut. Doch wusch es ihn von all dem Dreck und Schmutz, welches ihn bedeckte, ab. Der Mann holte tief Luft und wappnete sich innerlich, bevor er gänzlich untertauchte. Unter Wasser strich er mehrfach über seinen Kopf, um auch alle Reste der frühmorgendlichen Dusche zu beseitigen. Prustend tauchte er wieder auf. Machte einige Schwimmbewegungen ins Hafenbecken, bevor er merkte, dass selbst diese Bewegungen nicht für ein warmes Badevergnügen ausreichten. Schnell stieg er die Leiter wieder auf den Kai hinauf und schlüpfte mit gerümpfter Nase in die weiterhin stinkenden Lumpen.

    Schnellen Schrittes ließ er den Seehafen hinter sich und strebte den schiefen Häusern und engen Gassen von Orkendorf zu. Nein, er war hier noch nicht fertig. Er wusste selber nicht warum, aber ein Gefühl sagte ihm, dass er noch einen Handel zu begleichen hätte. Schließlich hatte er eine Verabredung. Mit dem alten Jast in der Taverne „Krähennest“. Wie so viele Orte, die er in den letzten Stunden besucht hatte, war er schon seit über zwanzig Götterläufen nicht mehr hier gewesen. Doch immer bewusster wurde es ihm, wie wohlgesonnen ihm das Schicksal gewesen ist, dass er dieses Stadtviertel verlassen hatte. Das ihn auf Aves Spuren hat wandeln lassen. Das ihn mit Phexens Glück gesegnet hatte. Den Göttern sei Dank dafür.

    Direkt an einer Straßenkreuzung liegt die Taverne „Krähennest“, durch deren kleiner Tür Rhys den Schankraum betrat. Einige Stufen führten vom Eingang hinunter in den Raum, in dem schon viele Zecher das Wenige, was sie im Laufe des Tages durch ihre Arbeit als Tagelöhner, Bettler oder Dieb erworben hatten, vertranken und verspielten. Doch es gab auch hier Leute, die arbeiteten: Der Wirt, der Fiddler und die Metzen. In der nur von wenigen Talgkerzen mehr schlecht als recht beleuchteten Raum brauchte Rhys einige Zeit, bis er den alten Jast an einem Tisch ausmachen konnte. Wenig später saß er bei ihm und wurde dessen Zechkumpanen vorgestellt. „Das ist mein Kumpel Rhys. Er ist der Sohn von der Metze Igraine und war früher bei den Knurrhähnen. Ihr erinnert Euch doch sicher noch an die Bande.“

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    Ja, sie erinnerten sich noch daran. Oder zumindest taten sie so. Mit Sicherheit war seitdem nicht nur viel Wasser den großen Fluss hinunter ins Meer geflossen, sondern auch viele Banden gekommen und gegangen. Doch beim Bier und immer wieder kreisenden Selbstgebrannten des Wirtes verging die Zeit. Viel wurde erzählt von der guten alten Zeit, die in Rhys Erinnerung auch nicht besser war die Erlebnisse der letzten Stunden. Geschichten wurden zum Besten gegeben, Tratsch und Klatsch kam auf den Tisch, zuweilen erzählte man sich auch von dem einen oder anderen Orkdorfer, von dem man über mehrere Ecken hörte, dass er sein Glück gemacht hätte. Doch Rhys fragte Niemand, was er in den ganzen Jahren gemacht hat, denn hier fragte man nach sowas nicht – schließlich erzählten die Wenigsten gerne und freimütig von ihren Verbrechen oder der Zeit im Kerker.

    Als das Gespräch sich um einen Bekannten eines Sohnes der Tochter von dem Schwager des Mannes, der mal beim Fleischer gearbeitet hat, drehte, der vor einigen Jahren Orkendorf verlassen hatte und jetzt ein reicher Händler in Drôl sein soll, schlug der Mann, der sich als Cet vorgestellt hatte, auf den Tisch. „Ha! Da habe ich doch fast vergessen Euch von Niall zu erzählen. Der wird sicher bald auch ein reicher Händler sein, wie ich gehört habe.“ Ungläubig schüttelte Jast sein Haupt. „Der Tunichtgut? Du hast sicher zuviel vom Schnaps getrunken, Kumpel. Der ist doch dumm wie Stroh. Und damit habe ich schon das Stroh beleidigt.“ Cet nickte mit Kopf. „Jaja, hast ja recht. Aber so wie er erzählt hat er einen Pfeffersack ausgenommen. Bis auf die Bruche – und das kannst Du wörtlich erzählen.“ Jast winkte ab. „Also ein paar Klamotten und vielleicht ein paar Münzen, das wird ihn aber noch lange nicht zum reichen Händler machen, Kumpel.“ Cet lächelte ihn mit seinen Zahnstümpfen an. „Das vielleicht nicht, aber er hat auch ein Stück Pergament, das ein ganzes Schiff wert ist.“

    Hatte Rhys soeben noch in seinen bedenklich leeren Krug geschaut, ruckte nun sein Kopf empor. „Was?“, fragte Jast ungläubig. „Ja, wie ich es sage. Aber der Pfeffersack hat wohl gemeint beim Boltan ein so gute Blatt zu haben, dass er sogar sein Schiff in den Pott geworfen hat.“ Jetzt schaltete sich Rhys ein. „Und wo findet man diesen … Glücklichen?“ Cet, etwas irritiert über diese Frage, deutete mit dem Kopf in Richtung Ausgang. „Das ist der, der gerade geht.“ Rhys drehte sich auf seinem Hocker um und blickte in die angegebene Richtung. Er sah wie ein Mann gerade das Krähennest verließ. Ein Mann, der seinen Mantel und seinen Hut trug. Rhys sprang auf und wollte mit den Worten „Entschuldigt mich, aber ich muss los“ in Richtung Eingang stürmen. Doch Jast hielt ihn am Ärmel fest. „Wieso denn so plötzlich. Wir haben doch noch viel zu erzählen.“ Rhys blickte ihm tief in die Augen. „Es gab kein Boltan-Spiel – nur einen Knüppel aus dem Hinterhalt.“

    Kurz verharrte Jarl, dann zeigte sich ein Lächeln, als er verstand. Er nahm die Hand vom Arm und nickte Rhys zu. „Phex mit Dir.“ Dankbar nickte Rhys dem alten Mann zu, bevor er zur Tür eilte. Er riss sie auf und stürmte hinaus die Straße.

  • Ruckartig stand Rhys auf, um sich selber aus den Gedanken zu reißen. Doch diese ließen ihn nicht los und ihr Nachklang schien ihn auf etwas aufmerksam machen zu wollen, was er aber nicht verstand oder nicht zu sehen vermochte. Ärgerlich presste er die Lippen aufeinander. Es schien ihm, als sei in allem eine Botschaft versteckt. Als hätte es einen Sinn, den er einfach nicht begriff. Doch was für ein Sinn soll darin liegen seiner Habe beraubt in stinkenden und dreckigen Lumpen im erbärmlichsten Stadtviertel Havenas rumzustehen?

    Erst das vernehmliche Knurren seines Magens vermochte Rhys aus seinen Gedanken heraus zu reißen. Zu lange schon hatte er Nichts mehr gegessen. Das gute Mahl auf der Rhetis schien eine Ewigkeit her zu sein. Als wäre das in einer anderen Welt oder seinen Träumen geschehen. Doch nur drei Kupfer nannte er sein Eigen. Schon lange war er nicht mehr so arm gewesen. Auch wenn er oft abgebrannt war, wenn er nach einer langen Seereise im Hafen seine Heuer bei den Wirten und Huren gelassen hatte – so war er doch dann wieder aufs Schiff zurück gekehrt, wo er Essen und Trinken bekam. Aber Trübsal blasen machte ihn auch nicht satt und er erinnerte sich an eine Bäckerei, an der in der Nacht vorbei gekommen war.

    Mit dem – wenn auch bescheidenen – Plan im Rücken eilte er die Strassen entlang und suchte dabei den größeren Dreckhaufen auszuweichen. Bald schon erreichte er den kleinen Laden und trat ein. Der Ruß aus dem Ofen hatte die Wände und Decke und alle Flächen dunkel gefärbt. Der Geruch von frischem Brot stieg Rhys in die Nase und für ein Kupfer erstand er einen Laib. Bewusst machte er sich keine Gedanken über die schwarzen Einschlüsse im Brot und wie das Mehl seinen Weg hierhin gefunden hatte. Doch angesichts seines Hungers schmeckte das Brot, das er aß, während er die Straße weiter hinunter ging, köstlich.

    Plötzlich weitete sich sein Blick. Ein großer Platz öffnete sich vor ihm und ging in den Uferanlagen auf. Dahinter waren die Masten etlicher Schiffe zu sehen. Der Gestank von Orkendorf wurde vom Wind, der den Geruch der See mitbrachte, hinfort geweht. Langsam und andächtigen Schrittes überquerte Rhys den Platz, bis er an der Uferkante stand und über das Wasser hinweg sah. Er betrachtete die vielen Schiffe, die Handelsgüter entluden oder einlagerten. Er blickte hinüber auf die Boroninsel (und ein leichtes Schauern lief über seinen Rücken). Rechts sah er den Zipfel von Krakeninsel, während zu seiner Linken Nalleshof lag. Sein Blick folgte einem Schiff, das mit geblähten Segeln der Ausfahrt des Seehafens zustrebte, um seine große Fahrt anzutreten.

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    Rhys blickte an seinen Füßen vorbei in das nasse Element, welches sich an der Kaimauer brach. Er atmete tief durch und füllte seine Lungen mit dem Geruch des Meeres, fühlte den Wind, der von der Ferne kündete. Ohne groß darüber nachzudenken griff er in seine Tasche und nahm einen der zwei verbliebenen Kupferstücke hinaus. Kurz wog er ihn in seiner Hand, bevor er die Münze in die kalten Fluten warf. Das Stück Metall verschwand unter der nächsten anrollenden Welle. Leise begann Rhys zu sprechen.

    „EFFerd, Herrscher über Wind und Wogen, auf Deine Gunst bauen wir Menschen an der Küste und auf der See, besonders hier in Havena. Lass mich nicht umherirren auf der stürmischen See des Lebens, zeige mir den rechten Kurs und lass mich nicht auf den kantigen Riffen zerschellen. Gebe guten Wind auf meinen Fahrten, bewahre mich vor schlimmen Unwetter und behüte meine Seele. Du wühlst auf und glättest das Meer. Du machst das Unschiffbare schiffbar. Du löst die Gefesselten. Will darum fortan nicht vergessen zu danken und zu beten.“

    Rhys stand und saß noch am Kai, als die Dämmerung herein brach.

  • Der Tag war schon angebrochen, als Rhys auf nackten Füßen durch den stinkenden Morast der Gassen von Orkendorf stolperte. Es war als würden die Erinnerungen aus den ersten etwa fünfzehn Götterläufen seines Lebens, die er versucht hatte zu vergessen, innerhalb weniger Stunden zurück kehren und auf ihn einschlagen. Wie ein Hammer, welcher ein Schmied auf einen Amboss hämmert. Auf einer Treppe ließ er sich nieder und sein Blick schweifte über die sich zusehendes belebende Straße.

    Er sah die Alten, die im Müll nach Verwertbaren, vielleicht sogar Essbarem suchten. Er sah die ärmlichen Handwerker, wie Schuhputzer und Tagelöhner, die auf dem Weg waren, um eine erbärmliche Arbeit für den Tag zu suchen. Er sah die Frauen, die am Brunnen veralgtes Wasser schöpften, um damit den gröbsten Dreck aus ihrer Wäsche zu waschen. Er sah die Bettler, die in Richtung Oberflur schlurften, um dort den einen oder anderen Heller der Barmherzigkeit zu erbitten. Er sah die (meist) unfähigen Bader und Scharlachtane, die den Kranken ihre Dienste anboten. Er sah die Kinder, die im Schmutz der Straße und den Fäkalien im Rinnsaal nach verlorenen Münzen und ähnlichem suchten. Er sah die stolzierenden Jugendlichen, denen eine Bandenmitgliedschaft eine vermeintliche und trügerische Sicherheit versprach.

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    Er sah Menschen, die sich in ihrem Leid und Elend suhlten, bis sie nach einem unglücklichen und hoffnungslosen Leben an Krankheit, Alter oder durch einen Dolch im Rücken verstarben. Dabei gibt es doch Nichts, was sie hier hält. Niemand hindert sie daran die Stadt zu verlassen und auf dem Land Albernias ihr Glück zu suchen. Niemand verbietet ihnen zum Hafen zu gehen und beim erstbesten Schiff anzuheuern, um an fernen Gestaden ein neues Leben zu beginnen. Niemand steht ihnen im Wege, wenn sie sich die Freiheit nehmen und einfach aufbrechen würden. Woanders hin. Denn überall ist es besser als hier. Doch sie bleiben.

    Ob soviel Dummheit und Feigheit schüttelte Rhys sein Haupt. Nur zu gut wusste er, dass außerhalb von Orkendorf eine Welt darauf wartet erobert zu werden. Dass man woanders besser leben kann als hier. Er ist aufgebrochen. Doch nur durch die Not getrieben, wie ihm einfiel. Er hatte Orkendorf nicht verlassen, weil er sich woanders ein besseres Leben erhofft hatte. Er war geflohen, weil ihm hier der Tod gedroht hatte. Davor war auch er nie auf den Gedanken gekommen dieses Stadtviertel zu verlassen, dass er woanders hin konnte. Dummheit? Unwissenheit? Faulheit? Was auch immer es gewesen war, er konnte es nicht genau benennen. Doch jetzt wusste er um die Welt, die hinter den Grenzen von Orkendorf und hinter den Stadtgrenzen von Havena lag.

    Man musste nur aufbrechen. Einen Schritt vor den Anderen machen. Die große Reise wagen. Neugierig sein auf das, was hinter der nächsten Wegbiegung liegt. Erforschen, was sich unter der Kimm befindet. Sich an der Freiheit erfreuen, wenn das Schiff unter vollen Segeln neuen Zielen entgegen strebt. Frei zu sein an einer Weggabelung selbst zu entscheiden, welcher Straße man folgen möchte. Auf seinen Bauch hören und seinem Herzen folgen. Denn irgendwo da draußen vermag man das Glück zu finden. Das Glück frei zu sein. Und natürlich auch die eine oder andere Münze.

    Ein seltsames Lächeln lag auf Rhys‘ Lippen, während er zu den Kindern hinüber blickte, die in den Abfällen und dem Schlamm nach ihrem Glück suchten. Und natürlich nach der einen oder anderen Münze.

  • Das Haus aus Backstein war heruntergekommen und baufällig, wie er es in Erinnerung hatte. Schon vor dem Großen Beben aus Backsteinen erbaut lehnte es sich träge an das Nachbargebäude und wäre ohne dieses wohl eingestürzt. Die Fensterläden hingen, wenn sie überhaupt noch existierten, schief in ihren Aufhängungen. Aus den Fenstern hing die Wäsche aus Lumpen, die Fensteröffnungen selbst waren mit Tüchern abgehangen, um die Kälte draußen zu halten. Einige Stellen ließen noch erahnen, dass das Gebäude zu längst vergangenen Zeiten verputzt gewesen war. Das dunkle Loch des Eingangs zog Rhys fast magisch an.

    Er presste die Lippen zusammen. Just in dem Augenblick entleerte ein Orkendorfer aus dem Haus über ihm die nächtliche Notdurft auf die Straße – und auf Rhys, der genau in der übelriechenden und ekligen Dusche stand. Angewiedert schüttelte er sich und verfluchte seine aktuelle Situation. Er streifte die letzten Reste menschlicher Ausscheidungen von seiner Schulter und rieb sich seine Hände an der nassen Hose ab. Sein Blick fiel ein weiteres Mal auf den Eingang des Hauses gegenüber. Und bevor noch Jemand seinen Nachttopf auf der Straßen entleeren konnte überquerte er schnellen Schrittes die Straße und trat – durch eine nur noch notdürftig mit Brettern zusammen gehaltene Türe – in das Haus ein.

    Die Wände starrten vor Schmutz und Schimmel. Überall war die klamme Feuchtigkeit sichtbar, während er die Treppe hinauf stieg. Auf jedem Treppenabsatz mehrere Türen, die in kleine Räume führten, in denen oft sogar eine ganze Familie mit mehreren Kindern auf engstem Raum lebt. Den Stiegen folgte er bis zum Treppenabsatz unter dem Dach. Auf dem Podest hatte sich eine Pfütze gebildet und durch die Dachschindeln konnte man den immer heller werdenden Himmel erkennen. Es war eines der üblichen Wohnhäuser in Orkendorf. Löcher, in denen Menschen hausten, die das Glück hatten die Nächte nicht in Hauseingängen, unter Torbögen oder unter einem notdürftigen Dach aus einem Stück Stoff verbringen zu müssen.

    Rhys blickte auf eine der Türen, die vom höchsten Podest der Treppe abgingen. Die Spuren der Zeit waren auch an ihr nicht vorüber gegangen und an den Rändern begann das Holz unter einer dünnen Schicht von Schimmel zu verfaulen. Kurz zögerte er, bevor er sich ein Herz nahm und auf die Tür zutrat. Nach einem kurzen Druck auf den Knauf sprang sie auf, denn das Schloß war schon längst ein Raub des Rostes geworden. Modriger, abgestandener Geruch wehte Rhys entgegenen, während die Flamme einer Kerze neben dem Bett zu flackern begann. Eine alte Frau setzte sich langsam im Bett auf und ihr Kopf ruckte zur Tür hinüber.

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    Sie kniff ihre Augen zusammen und ihre keifende Stimme fuhr durch den Raum. „Kannste nich‘ anklopfen?“ Die Alte zuckte mit den Schultern. „Was solls, bin eh‘ noch wach.“ Sie trampelte ihre wollene Decke zum Fußende des Bettes. „Kannst schon mal das Kupfer auf den Tisch legen.“ Die Metze schwang ihre Beine aus dem Bett und stelle sich hin. „Mach‘ schon, ich hab‘ nicht den ganzen Tag Zeit.“ Während Rhys noch in der Tür verharrte und entgeistert die Alte anstarrte, zog sie ihren dreckigen Rock bis zur Hüfte hinauf. „Zieh schon Deine Hose aus und komm‘.“ Sie legte sich mit dem Oberkörper zurück aufs Bett und zeigte dem Mann ihre entblößte Scham. „Hier, sie gehört jetzt nur Dir.“

    Angewiedert verzog Rhys das Gesicht und drehte sich auf der Ferse um. Wortlos stürmte er die Treppe hinunter, während die keifende, verärgerte Stimme der alten Metze ihn verfolgte. Erst als er aus dem Haus auf die Straße getreten war hielt er inne. Mit dem Rücken lehnte er sich gegen die Wand und atmete tief durch. Er weiß selbst nicht, wieso er dieses Dachzimmer aufgesucht hatte. Was ihn geritten hatten zu dieser Frau zu gehen. Zur Metze Igraine, die ihn einst geboren hatte.

  • Rhys. Mein Name ist Rhys.“ Der alte Jast legte die Stirn in Falten und man vermochte zu sehen, dass er angestrengt in seinen Erinnerungen kramte. Dann entblößte ein Grinsen ein weiteres Mal seine Zahnstümpfe. „Doch nicht der Balg von der Metze Igraine, oder?“ Rhys, der kurz nach seinem überstürzten Aufbruch aus Havena den Namen „Askir“ angenommen hatte, lächelte. „Du scheinst Dich also an mich zu erinnern, Jast. Dann bin ich wohl doch noch nicht ganz vergessen.“ Der Alte zwinkerte ihm zu. „Wie könnte ich. Habe Keinen der Bande vergessen, die jede Woche im Krähennest den Selbstgebrannten abgeholt habt, damit der Taverne nix passiert. Das efferdseitige Orkendorf war Euer Gebiet.“ Rhys nickte langsam.

    Alte Erinnerungen an die Bande von Straßenjungen, denen er einst angehört hatte, kehrten zurück, nachdem sie lange begraben waren. Als Kind überlebte man in der Gosse von Orkendorf nur, wenn man sich einer der vielen Banden anschloss, die sich bemühten durch Diebstahl, Raub und Schutzgelderpressung zu überleben. So hatte sich auch Rhys einer solchen Bande angeschlossen. Was ihm an Kraft gefehlt hat, hat er durch Köpfchen ausgeglichen und war schon bald ein wichtiges Mitglied der Bande geworden. Einer erfolgreichen Bande, die sich nach einem Fisch aus dem Meer der Sieben Winde, der als nutzlos und merkwürdig gilt, die „Knurrhähne“ genannt hatte.  Schon nach einigen Jahren hatten sie einen Teil von Orkendorf unter ihre Kontrolle gebracht und es damit besser gehabt, als viele Andere, die in der Gosse leben mussten.

    Doch bei der Anzahl der Straßenjungen und der Banden war (und ist) der Kampf ums Überleben auch immer ein Kampf gegeneinander. Lange konnten sich die „Knurrhähne“ gegen die anderen Banden behaupten. Doch irgendwann bildete sich in einem Teil der Fürstenstraße eine neue Bande, welche dort aber keinen Fuß fassen konnte und in das „Reich“ der „Knurrhähne“ eindrang. Diese konnten ihren Teil „Orkendorfs“ lange verteidigen, doch im Winter des Jahres 1012 oder 1013 BF stöberten die Feinde, welche sich „Fürstensöhne“ nannten, etliche Anführer von Rhys‘ Bande auf und stachen sie ab. Schon wenig später zerfielen die „Knurrhähne“ und es begann eine regelrechte Hetzjagd auf die Überlebenden.

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    Damals hatte Rhys sich entschlossen, dass es gesünder wäre die Stadt zu verlassen und war entlang des großen Flusses geflohen. Irgendwo an dessen Ufer war es auch, dass er ein einzelnes Grab entdeckte, auf dem auch der Name des (vermeintlich heldenhaften, aber) toten Inhabers zu lesen war: Askir. Er hatte diesen Namen angenommen und war seitdem nicht mehr nach Havena zurück gekehrt. Bis er vor einigen Wochen entschieden hatte hier „Urlaub“ zu machen – im Rückblick betrachtet eine seiner weniger glorreichen Ideen, wie er zugeben musste.

    „Ich glaube ich brauche etwas zum Anziehen“, stellte Rhys lakonisch fest. Die Nacht wurde nicht wärmer und es fröstelte ihn. Der alte Jast nickte grinsend. „Dann mal viel Erfolg bei der Suche, Kumpel. Kennste ja: Hier hat Keiner was zu verschenken. Aber wenn Du was findest komm‘ doch morgen mal im Krähennest vorbei, bin da immer noch jeden Abend.“ Er blickte sich um und wurde der aufziehenden Morgendämmerung gewahr. „Ich mach‘ mich jetzt aber mal, sonst muss ich mir wieder das Geschrei meiner Alten antun.“ Langsam wandte Jast sich zum gehen. „Und vergiss nicht, Kumpel: Am Abend im Krähennest.“ Rhys blickte ihm hinterher, ohne was zu sagen. Der Alte verschwand hinter der nächsten Häuserecke und noch länger war das „TackTack“ seiner Krücke und seines Holzbeins zu vernehmen.

    Im Schatten der Häuser, am Straßenrand haltend verließt auch Rhys den Ort, an dem er aus seiner Ohnmacht erwacht war. Es waren noch einige wenige Leute unterwegs, die aus den schlechten Kneipen oder schäbigen Bordellen des Viertels nach Hause zurück kehrten. Bald dürften aber auch schon Jene aufbrechen, die irgendwo einem mehr oder weniger ehrbaren Tagwerk nachgingen. Rhys musste sich beeilen, wenn er noch im Zwielicht der Dämmerung Kleidung organisieren wollte. Er wurde schon langsam nervös, als ihm ein betrunker Jüngling ins Auge fiel, der hinter einer Tonne seinen Rausch ausschlief und in etwa seine Größe hatte. Ein Besen, der an einem Hauseinang lehnte, diente Rhys als Waffe. Zur Sicherheit zog er ihn dem Betrunkenen über den Schädel.

    Not kennt kein Gebot, dachte sich Rhys, als er den nunmehr Ohnmächtigen entkleidete. Die Klamotten stanken erbärmlich und waren sicher schon lange (wenn überhaupt jemals) gereinigt worden. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, wie viele Untermieter in den Stoffen aus Leinen und Wolle wohl wohnhaft sind. Schuhe hatte der Mann am Boden keine, doch zumindest trug Rhys nun eine Hose, ein Wams und eine kurze Jacke sowie eine Mütze. In Lumpen gekleidet, die vor Schmutz und Dreck eine ganz eigene Steifigkeit aufwiesen und nach Schweiss, Alkohol und Fäkalien stanken, setzte er seinen Weg fort. Zeitgleich durchwühlte er die Taschen und fand drei Kupfermünzen sowie ein kleines Messer. Nichts Besonderes und als Waffe nur sehr improvisiert zu benutzen, aber besser als Nichts.

    Mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen dachte er an die letzte Nacht zurück, die er in den Armen einer Kurtisane auf dem Vergnügungsschiff Rhetis verbracht hatte. Nachdem ihm Phex, wie die letzten fünf Götterläufe, wieder einmal Glück gebracht hatte. Doch genau dieses Glück hatte ihn jetzt verlassen. Plötzlich. Wortwörtlich auf einen Schlag. Auch wenn er als „Humpen-Baron“ noch immer Anteile an mehreren Tavernen hielt, half ihm das hier in Orkendorf wenig. Was nutzte es ihm, wenn er nicht mal genug Geld hatte, um eine Passage nach Dargaras oder nach Daynon oder in eines der anderen Länder mit einer seiner Tavernen zu bezahlen? Nein, er war wieder ganz unten angelangt. Phex hatte ihn wohl verlassen. Seine Stirn legte sich ob dieses Gedankens in Furchen. Er blieb mit diesem Gedanken an einer Straßenecke stehen und blickte auf das Haus gegenüber, das ihm seltsam bekannt vorkam.

  • Sein Schädel brummte, als er aus der Ohnmacht erwachte. Kaum fähig einen klaren Gedanken zu fassen drückte er seine Hände an die Schläfen. Rhys. Ja, das war sein Name. Oder Askir. Es fiel ihm schwer sich zu konzentrieren. So schloss er trotz der nächtlichen Dunkelheit wieder die Augen und suchte erstmal zur Ruhe zu kommen und seine Gedanken zu ordnen. Beginnend mit einer Bestandsaufnahme und einer eigentlich einfachen Frage: Wo bin ich? Es roch nach Unrat und Fäkalien. Der Untergrund, auf dem er saß fühlte sich nach Schlamm an, durch den sich ein Rinnsaal fraß. Eine Erinnerung tief in seiner Erinnerung begann sich zu regen. Orkendorf!

    Orkendorf. Das Stadtviertel Havenas, in dem er geboren wurde. In dessen schmutzigen Gassen er aufwuchs und bis zum heutigen Tag nicht mehr zurück gekehrt ist. Nicht an diesen Ort dunkler Erinnerungen an Hunger, Dreck und Leid. Nirgendwo in Havena sieht man solches Elend und solche Armseligkeit wie hier. Jeder kippt seinen Unrat gleich vor seine Tür und der üble Geruch steigt einen sofort in Nase und Kleider. Wie Bettler sehen die in Lumpen gekleideten Menschen aus.

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    Jetzt, im Jahr 1036 BF, war er nach über zwanzig Jahren wieder an den Ort seiner Geburt zurück gekehrt. Aber nicht freiwillig. Denn freiwillig hätte er nie wieder Orkendorf aufgesucht. Das Stadtviertel, in dem seine Mutter als billige Hure für jede noch so wertlose Münze die Beine breit gemacht hatte. Hier hatte er als Kleinkind in der verschmutzen Kammer unter einem Dach gelebt, wenn sie ihn nicht mit zum Betteln nahm. Als er zu alt war, um noch Mitleid zu erregen, hatte sie sich wieder der Hurerei hingegeben und ihn hinaus geworfen.

    In den Gassen hatte er sich mit Hunden, Katzen, den anderen vor Schmutz starrenden, hungernden Kindern und den allgegenwärtigen Ratten um jede fortgeworfene, verschimmelte Brotkante gestritten. Klein und schmächtig, wie er damals war, hatte er öfters den Kürzeren gezogen. Nur mit List und Tücke und ein wenig Glück hat er diese Jahre überlebt. Hatte sich einer Bande angeschlossen, hatte gestohlen und geraubt – und wenn es nur ein paar Schuhe waren, deren Leder man kauen konnte. Es waren bittere Erinnerungen an eine Zeit des Leids, der Entbehrungen und der Gewalt, die über ihn hinein brachen.

    Er war wieder dort, wo alles begonnen hatte. Er saß in einem von menschlichen und tierischen Ausscheidungen belegten Rinnsaal in einer Gosse in Orkendorf. Seiner Kleidung, die er sich vor wenigen Wochen erst hatte neu schneidern lassen, war er beraubt. Nur noch mit einer Bruche und einem Leibhemd bekleidet fröstelte es ihn in der kühlen Nachtluft. Er tastete an seinen Hals und merkte, dass man ihm nur seine zwei Amulette gelassen hatte: Die Mondsichel, der er vor Jahren beim Sturmfest in Amonlonde von Lilium erhalten hatte, und das Zeichen des Blauen Lagers der Drachenlande. Langsam erhob er sich und taumelte – noch etwas benommen – gegen eine Wand. Unter den nackten Füßen fühlte er, dass er in einen klebrigen und stinkenden Haufen hinein trat.

    Er blickte zu den über ihn aufragenden Hausfassaden hinauf. Zu den Gebäuden, die noch aus der Zeit vor dem Großen Beben stammen. Einige von ihnen eigentlich stark einsturzgefährdet, andere nur notdürftig abgestützt. Sie sind alt und eng, manchmal drei oder mehr Stockwerke hoch. Von seinen Betrachtungen wurde er durch eine Gestalt gerissen, die sich nur wenige Schritte von ihm entfernt um die Häuserecke drückte. Eine Gestalt in Lumpen, die ebenso überrascht zu sein schien, als sie fast mit ihm zusammen stieß. Aus zusammengekniffenen Augen in einem Gesicht, das vom Leben gezeichnet ist, blickte der alte Mann ihn an. Dabei stützte er sich schwer auf eine Krücke, da ihm der rechte Unterschenkel fehlt. Ein krächzendes Lachen war zu vernehmen.

    Jacques_Callot_Beggar„Ha, Kumpel, wolltest wohl ein Abenteuer erleben hier in Orkendorf. Hat Dir das Abenteuer gefallen?“ Das Grinsen des Mannes entblößte eine Reihe von Zahnstümpfen. Askir blickte ihn angewiedert an. „Es war knorke.“ Worte, die von Ironie trieften und ein weiteres krächzendes Lachen zur Folge hatte. „Was springt für mich raus, wenn ich Dir den schnellsten Weg ins nächste Stadtviertel zeige? Dem alten Jast kannst Du vertrauen, Kumpel.“ Er tippte mit seiner Krücke an Askirs Bauch, während er auf seinem verbliebenen Bein balancierte. „Denn mit Deinem wohlgenährten Bäuchlein wirst Du hier sonst ganz schnell ein Festmahl für die Ratten.“ Askir blickte dem Alten tief in die Augen und irgendwo in seinem Inneren regte sich eine Erinnerung. „Du bist der Jast vom Krähennest, nicht wahr?“

    Jetzt war es an dem Alten die Augen zusammen zu kneifen. „Bin da früher oft gewesen und hab‘ für Ordnung gesorgt, bis so ein Verrückter meinte mich mit seiner Axt fällen zu müssen. Aber das ist schon lange her, Kumpel.“ Die Vorsicht in den Augen des alten Jast war selbst in der Dunkelheit nicht zu übersehen. „Wer bist Du, Kumpel?“ Das Gesicht des Alten rückte etwas näher an Askir heran, so dass dieser den fauligen Atem riechen konnte. „Ich bin A…“ Er zog tief die stinkende Luft von Orkendorf ein. „Rhys. Mein Name ist Rhys.“

  • Nach einem Frühstück auf der „Rhetis“ hatte sich Askir von der Kurtisane, dessen Name er schon längst wieder vergessen und keine Bedeutung für ihn hatte, verabschiedet, bevor er sich auf den Weg in die Stadt gemacht hatte. Dafür überquerte die Prinzessin-Emer-Brücke, die mit zwanzig Schritt Höhe und einer Länge von zweihundert Schritt die größte Brücke Aventuriens ist, zum Stadtteil Unterfluren. Mit beschwingtem Schritt, eine Hand am Pergament in seiner Tasche, schlenderte er durch die Straßen in Richtung Efferd.

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    Es dauerte seine Zeit, bis er an der Brückstraße anlangte – die wohl seltsamste Straße der ganzen Stadt. Auf der einen Seite liegen die wunderschönen Villen von Unterflur, auf der anderen Seite die kleinen, verwinkelten Gassen von Nalleshof. In einer dieser Tweten führten seine Schritte und mit jedem Schritt roch es mehr nach Salz und Meer. Denn diesen Stadtteil durchweht der ihm so bekannte Hauch von Seefahrt und Abenteuer. Schon jetzt, am Tage, dringt der Lärm der fröhlichen Zechern, zumeist Seefahrer, die ihre Heuer auf den Kopf hauen, hinaus in die Gassen. Selten dringt ein Sonnenstrahl auf den Weg, denn die Giebelhäuser stehen hier dicht aneinander gedrängt.

    Plötzlich wurde vor ihm eine Tür aufgestoßen und ein Mann flog vor seine Füße. Noch während dieser sich sich aufrappelte drangen weitere Männer und Frauen aus der Taverne hinaus. Einige stürzten sich auf den Mann, andere suchten diese davon abzuhalten. Kurzentschlossen machte Askir einen Satz zurück – als ehemaliger Matrose wusste er nur zu gut, wie schnell man selbst als eigentlich Unbeteiligter in eine solche Tavernenschlägere (auch oder gerade wenn sie auf der Strasse ausgefochten wurde) hineingezogen werden konnte. Anhand von Wortfetzen, in Wut und Zorn geschrieen, konnte er schnell herausfinden, dass sich einige Matrosen wohl abfällig über die „Havena-Bullen“ geäußert hatten. Und sowas konnte ein Imman-Anhänger aus Havena natürlich nicht auf sich sitzen lassen.

    In gebührendem Abstand betrachtete Askir die Schlacht, die mit Fäusten, Tonkrügen, Flaschen und Holzknüppeln (Belegnägel wie Stuhl- und Tischbeine) ausgetragen wurde. Doch natürlich war er nicht allein, denn ein solches Spektakel zieht immer viele Schaulustige an. Schaulustige, welche den Kampf bewerteten und kommentierten. Aber auch Schaulustige, die freudestrahlend (und oft schon etwas angeheitert) der einen oder anderen Seite beistehend in den Kampf eingriffen. Einige Wenige sogar, die sich einfach ins Getümmel stürzten und auf jeden eindroschen, der in die Reichweite ihrer Fäuste gelangte, ohne sich um den Grund des Streites oder irgendwelcher Parteien zu sorgen. Kein Wunder, dass bald die Anzahl der Streiter erheblich gewachsen war.

    Ohne Interesse in die Prügelei hinein gezogen zu werden – vor allem nicht mit dem Pergament in seiner Tasche – entfernte sich Askir unauffällig und zog sich in eine Seitengasse zurück. Sicher eine der engsten Gassen des Viertels, wie es Askir schien. Nicht mehr als ein Trampelpfad im Zwielicht zwischen zwei Häusern. Wäre er in Orkendorf gewesen hätte es ihn sicher besorgt, doch er war in Nalleshof. So setzte er seinen Weg in Richtung Hafen fort – als ihn ein kräftiger Schlag auf den Kopf in die Dunkelheit sandte …

  • Es war einmal, vor einigen Monaten, in Havena, der größten und wichtigsten Hafenstadt des Mittelreiches an der Westküste des Kontinents Aventuriens und stolzen Hauptstadt Albernias. Dennoch in heutigen Tagen nur noch ein trauriger Schatten seiner einstigen Größe und Macht, nachdem ein großes Seebeben vor über dreihundert Jahren die Stadt verwüstete. Nur sieben Stadtviertel – der Fischerort, die Krakeninsel, die Marschen, Nalleshof, das Orkendorf, der Südhafen und die Boroninsel – überdauerten diese Katastrophe und bilden die heutige Altstadt Havenas. Nach dem Beben erst entstanden die drei neuen Viertel OberflurenUnterfluren und Feldmark, welche die Neustadt bilden.

    In Feldmark erwachte Askir. Seine Zunge fühlte sich belegt an und ihm war etwas schummrig zumute. Wohlweislich ließ er die Augen noch geschlossen und versuchte sich zu erinnern, wo er war. Er spürte die sanften Bewegungen der Wellen tief unter sich. Doch nicht in solcher Intensität, wie es auf hoher See der Fall gewesen wäre. Als sich neben ihm etwas regte spürte er nackte Haut auf seiner Haut. Langsam hob er die Augenlider und wandte den Kopf der Person zu, die mit ihm das Bett teilte. Es war eine Frau, deren regelmäßigen Atemzüge darauf hindeuteten, dass sie noch schlief.

    Das Licht des anbrechenden Tages fiel zwischen den Vorhängen in die Kabine. Langsam kehrten die ersten Erinnerungen zurück. Er war auf der Rhetis, einem Vergnügungsschiff mit Speisesaal und Spielsalon, das auch wegen seiner hübschen Bedienungen weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt war. Askir konnte sich noch erinnern, wie er als Junge in den verwinkelten, engen Gassen von Orkendorf davon geträumt hatte auf der Thetis, dem Vorgängerschiff der Rhetis, seine Zeit zu verbringen. Wie viele andere junge Leute, die im schäbigsten Stadtviertel Havenas aufwuchsen mussten, malte er sich die Freuden lebhaft aus. Doch gering nur war die Chance, dass einer von Ihnen jemals das Geld hat, um überhaupt an Bord gelassen zu werden.

    Aber er hatte es geschafft! Von seiner schnellen und überstürzten Abreise aus Havena (und dem Ändern seines Namens), dem Herumziehen mit Zahoris, der Begegnung mit einer Pressgang an der Küste des Horasreiches und etlicher Götterläufe auf See war ihm Phex die vergangenen fünf Götterläufe sehr gnädig gewesen. Anteile an etlichen Tavernen nannte er indessen sein Eigen und sein Glück hatte ihn zu einem wohlhabenden Mann gemacht. Nach seiner letzten Rundreise durch die Tavernen der „Humpen-Barone“ hatte er ausreichend Münzen, um eine Reise mit längerem Aufenthalt in seiner Geburtsstadt anzugehen. So war er nach vielen Götterläufen nach Havena zurück gekehrt – und hatte sich gestern seinen Traum erfüllt. Er hatte auf der Rhetis gespeist und gespielt. Der hübschen Frau an seiner Seite nach zu urteilen auch noch etwas mehr.

    Für den Sohn einer Hure aus Orkendorf hatte er es weit gebracht. Weiter gebracht, als er es ohne richtige Arbeit, ohne Schweiß für möglich gehalten hätte. Auch wenn sein Geld langsam zur Neige ging und es an der Zeit war wieder in seinen Tavernen vorbei zu schauen. Doch er wusste, wie schnell das Leben vorbei sein konnte. Viele hatte er schon gesehen, die mit einem Dolch zwischen den Rippen in der stinkenden Gosse verendeten, während die Taschen auf Links gedreht wurden. Auf die Boroninsel oder zu Efferd konnte man all sein Geld nicht mitnehmen. So spricht Nichts dagegen das Leben zu genießen, so lange man es kann. Wie auf das Stichwort regte sich die Frau neben ihm und drehte sich zu ihm um. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und mit einem neckischen Augenaufschlag fuhr ihre Hand zwischen seine Beine.

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    Einige Zeit später lehnte sich Askir zurück und seufzte, während die Frau ihren Kopf an seine Schulter bettete. Sie begann mit seinem Brusthaar zu spielen. „Ich hoffe der Besuch auf der Rhetis war ganz nach Deinem Geschmack, Kapitän.“ Askir legte die Stirn in Falten, als er nach einem Funken Ironie in ihrer Stimme suchte. Doch die Worte schienen ernst gemeint. Langsam begann eine weitere Erinnerung an den vergangenen Abend in seinem Geist Gestalt anzunehmen. Der Mann blickte neben sich und neben seinen Sachen, die neben dem Bett lagen, entdeckte er das Pergament. Die Überschreibung an Eigentum, die ein Kaufmann ihm gestern für seine Spielschulden ausgestellt hatte. Phex war ihm auch gestern im Spielsalon wieder zugetan gewesen. Ein Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab.