An Bord der Brigg „Kraken“, 14. Tag im dritten Monat, Jahr 21 n.d.B.
Die Kabine des Kapitäns an Bord der Brigg ist nicht nur größer als auf dem Toppsegelschoner – er hat zudem einen Vorraum und eine separate Schlafkajüte, in der seine Schwingkoje hängt. Einzig was fehlt sind die schwarzen, alptraumhaften Tentakel, die seine vormalige Kajüte geziert haben und vom dargaresischen Künstler Kyell stammen. Die an der Decke verlaufende Pinne, welche die Bewegungen des Steuerrades auf dem Oberdeck aufnimmt, stört es etwas – doch das kann man nicht ändern.
Vor einer Woche sind die Umbauarbeiten an dem Schiff, der neuen „Kraken“ beendet worden und nun liegt sie, umgeben von einigen anderen Schiffen, am Kai von Port Libertania in der Hideaway Bay. Askir hatte die letzten Stunden die nach den Winterstürmen durch die ankommenden Schiffe übermittelten Nachrichten gesichtet, wobei vor allem die neuen Entwicklungen in Yddland seine Aufmerksamkeit banden. Es wird Zeit, dass er für die Fragen, die sich ihm dabei stellen, Antworten erhält. Ebenso über die aktuelle Situation in Dargaras, dem Land hinter dem immer löchrig werdenden Nebel, zu dem die „Knurrhahn“ vor einem Tag ausgelaufen ist.
Ebenso hat sich die Annahme verdichtet, dass im letzten Jahr Niemand vom Blauen Drachen gerufen wurde. Zumindest Niemand, der bisher im Blauen Lager aktiv gewesen wäre. Offenbar hatten auch die anderen Drachen ihre üblichen Streiter nicht gerufen. Ein Umstand, der mehr Fragen aufwirft, als er Antwort geben würde. So bleibt nur die Spekulation, warum dies geschehen ist. Die schlimmste Befürchtung ist, dass es dem Täuscher in der ersten Drachenwelt gelungen ist die Drachen zu stürzen und seine Kreaturen ins Pantheon zu erheben. Doch es ist nicht Askirs Art sich in düsteren Gedanken zu verlieren. So blickt er hoffnungsvoll planend nach Vorne.
„Vielleicht kommt irgendwann wieder der Zeitpunkt, an dem der Blaue Drachen wieder ruft. Alle Diejenigen, die den Wind der Freiheit atmen und das Glück hinter dem Horizont suchen. Eine Zeit, in der auch die „Kraken“-Crew mit alten und neuen Freunden streitet, feiert, kämpft, diskutiert und mit der Gier in den Augen und für die Freiheit dem Weg des Blauen folgt; das Lagerbanner voran schreitet, Shantys gesungen werden und man im „Durstigen Dolch“ mit einem Tortuga Libre anstößt. Aye, ich bin sicher, dass auch wieder solche Tage kommen werden.
Seitdem ich das letzte Mal beim Fest der Drachen war, habe ich mir viele Gedanken darüber gemacht, wie der Blaue Weg zukünftig gelebt werden kann. Sowohl was er für mich selber bedeutet, nach den Jahren, in denen auch ich mich verändert und einen neuen Kurs eingeschlagen habe. Aber natürlich auch, welchen Kurs das Blaue Lager und damit die Blaulageristen im Gefüge des Drachenfestes einschlagen könnten und meiner Meinung nach sollten. Denn gerade jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um einen neuen Kurs zu bestimmen und die Segel entsprechend zu setzen.
Es war eher Zufall, dass ich im Jahr 14 n.d.B. ein Diplomat des Blauen Lagers wurde. Zwei Jahre nach dem ersten Sieg des Blauen Drachen habe ich den damaligen Hochdiplomaten, den Chevalier, kennen und schätzen gelernt. Wenngleich er im Lager umstritten war und etliche Kapitäne ihn negativ bewerten, so war er ein Diplomat mit Visionen, an denen er mich teilhaben ließ. Seine Art ist vielen Blaulageristen aufgestoßen, doch er hat in seiner Zeit als Hochdiplomat klug und umsichtig agiert und viel für das Lager erreicht.
Als ich Diplomat wurde hatte das Blaue Lager zwei Jahre zuvor den Sieg errungen. Es hatte sich mit dem Sieg als Lager, das auch im Wettkampf ernst zu nehmen ist und nicht auf eine Meute ständig betrunkener Piraten reduziert werden kann, bewiesen. Doch danach hatte das Lager versagt: es ist seiner Verantwortung im anschließenden Jahr die Herrschaft zu übernehmen nicht nachgekommen und hat auch seine Zusagen gegenüber anderen Lagern, im Besonderen dem Grauen Lager, gebrochen. Die versprochene Unterstützung für das Graue Lager als damals wichtigsten Bündnispartner im Jahr nach dem Sieg ist nicht erfolgt.
Ein großer Vertrauensverlust, sowohl bei den Bündnispartnern als auch bei den anderen Lagern, war die Folge. Das war die Situation, in der ich Diplomat wurde. Sowohl die Bemühungen des Chevaliers als auch in den folgenden Jahren von mir war, dieses Vertrauen in das Blaue Lager wieder herzustellen. Es galt den anderen Lagern durch Worte und Taten zu zeigen, dass wir in der Lage und bereit sind aus begangenen Fehlern zu lernen. Dass wir zugesagte Versprechen einhalten und die Regeln des Wettkampfes beim Fest der Drachen in ihrem vollen Ausmaß anerkennen. Gleichzeitig war es aber immer oberstes Ziel, dass der Kupferne Drachen nicht als Sieger aus dem Wettkampf hervor geht.
Die Einhaltung von Bündniszusagen gestaltete sich relativ einfach, wenngleich mit viel Zähneknirschen. Denn es gab aus dem ersten Siegerjahr noch eine Zusage an das Grüne Lager, welches in meinem ersten Jahr als Diplomat von der grünen Hochdiplomatin Juna Tunichtgut vehement eingefordert wurde. So vehement, dass ich sie gerne aus dem Lager geprügelt hätte, wenn der Chevalier ein entsprechendes Zeichen gegeben hätte. Doch wir haben uns an diese selbst auferlegten Ketten des Versprechens gehalten und den Grünen Drachen unterstützt. Zwei Jahre lang, wenn ich mich recht entsinne.
Es war in den darauffolgenden Jahren vornehmlich unseren Diplomaten, die im Laufe der Zeit als „Blaufüchse“ zu einer Institution im Lager heranwuchsen, zu verdanken, dass wir wieder Vertrauen aufbauen konnten. Doch für den größten Beweis, dass wir den Regeln des Wettkampfs entsprechend im Jahr nach dem Sieg herrschen werden, brauchten wir einen zweiten Blauen Sieg. Das war es, worauf ich in den ganzen Jahren als Diplomat, davon ein Jahr als Hochdiplomat, hingearbeitet habe.
Natürlich gab es auf diesem Weg Rückschläge, die uns vom eingeschlagenen Kurs abbrachten. So dass Kupfer im Jahr 14 oder 15 n.d.B. kurz vor einem Sieg stand, der vor allem durch das beherzte diplomatisch Eingreifen des Chevaliers als unseren Hochdiplomaten buchstäblich in letzter Sekunde verhindert werden konnte. Wir haben auch seltsame und unbequeme Entscheidungen treffen müssen, wobei der Vertrag mit dem Kupfernen Lager im Jahr 17 n.d.B., im Jahr vor unserem zweiten Sieg, sicher das diesbezüglich denkwürdigste Ereignis war. Von einem Geheimabkommen mit dem Silbernen Lager flankiert, um einen Kupfernen Sieg zu verhindern, hat es doch gezeigt, dass wir Blaulageristen bereit selbst undenkbare Abkommen einzuhalten.
Man kann dem Goldenen Lager nicht hoch genug anrechnen, dass sie im Jahr 18 n.d.B. nicht auf ihren Sieganspruch beharrten, sondern direkt von Beginn des Wettkampfes an uns unterstützen. Dass auch das Silberne Lager sich an unsere Seite stellte war ein Erfolg, der durch die beharrliche Diplomatie der vorhergehenden Jahre möglich war. Wir und damit der Blaue Drache haben gesiegt. Unter dem Ruf „Er ist der Kapitän, wir sind die Crew“ hat der Blaue Drache seine eigene Form der Herrschaft etabliert und damit den letzten Beweis erbracht, dass wir aus unseren Fehlern lernen und entsprechend verantwortungsvoll handeln können.
Wir haben gesiegt. Wir haben uns bewiesen. Wir haben uns durch unser Handeln Respekt verschafft. Und Respekt ist die Grundlage von Allem.
Im Kreis der Drachen hat man das Blaue Lager früher nicht respektiert: ständig betrunkene Piraten, die ihr Banner verkaufen und sich nicht dem Wettkampf stellen. Man mag anführen, dass es uns doch egal sein kann, was Andere über uns denken – aber letztendlich ist das nicht egal. Ich will nicht bemitleidet und ausgelacht werden. Ich will respektiert werden – und aus diesem Respekt, den andere Lager und ihre Streiter mir, den man dem Blauen Lager und Allen, die dort lagern und für den Blauen Drachen einstehen sowie dem Blauen Drachen selbst, gegenüber empfindet, kann mehr erwachsen.
Indessen werden wir – wieder – respektiert. Wir sind nicht nur als Kameraden und Kameradinnen beim Feiern gern gesehen, sondern werden auch als Bündnispartner umworben. Man könnte sagen: Viele haben uns offenbar lieb. Wir sind die lieben Blaulageristen. Geliebt oder zumindest gemocht zu werden ist jedoch nicht ganz die Art von Respekt, die für mich zum Blauen Weg und zum Blauen Lager passt. Nicht die Art von Respekt, die ich mir für meine Person wünsche. Doch das ist die Art Respekt, die wir meiner Wahrnehmung nach derzeit genießen.
Für mich war das Blaue Lager trotz unserer von Erfolg gekrönten Bemühungen der letzten Jahre immer der Ort, in dem sich gierige opportunistische Händler und freiheitsliebende pragmatische Glücksritterinnen treffen – der überwiegende Teil von ihnen mit nautischem Hintergrund. Vor allem spießbürgerliche Biedermeier, ehrbare Pfeffersäcke und tyrannische Adlige sollten uns nicht „lieb“ haben – sie sollen uns respektieren, weil sie uns und unsere verwegene und unabhängige Art zu leben in ihrem Innersten etwas bewundern. Aber besonders sollten sie uns respektieren, weil sie uns fürchten und wissen, zu was wir fähig sind.
Jetzt, nachdem wir bewiesen haben, dass mit uns zu rechnen ist, und uns keine Fesseln von Zusagen und Absprachen und Verträgen mehr binden, ist es an der Zeit diese Art von Respekt einzufordern. Diese Art von Respekt zu erkämpfen, zu erlangen und zu gewinnen. Wir sind das Lager der Freiheit und der Gier. Das sollten wir wieder mehr leben und diesen Teil der Blauen Seele, die in Teilen verloren zu sein scheint, wiederfinden.
Auf Initiative der „Kraken“-Crew ist auf dem letzten Fest der Drachen die „Muräne“ erwacht, der sich viele Crews und Blaulageristen angeschlossen haben. Getragen von dem Gedanken, dass die große Wiese in der Nacht kein Ort sein sollte, an dem die Orks auf Jagd gehen können, was sie wollen, während sich alle Anderen ängstlich in ihren Lagern verschanzen, wurde die Losung ausgegeben: „Die Nacht ist Blau!“. Das ist die Zeit, in der wir unsere Gier ausleben und außer unseren Verbündeten kann und soll Nachts Niemand mehr auf der Wiese sicher sein.
Natürlich sollten wir weiterhin am Wettkampf teilnehmen – alleine weil wir nur so einen Sieg von Kupfer, unserem Erzfeind unter den Drachen und Lagern, verhindern können. Wir werden Bündnisse eingehen und derzeit schlägt mein Herz – das will ich nicht verhehlen-, der letzten Feste und ihrer dortigen Worte und Taten gedenkend, für das Goldene Lager. Aber diese Bündnisse sollten wir nicht schließen, weil wir so „lieb“ und „nett“ sind, sondern aus drei pragmatischen und opportunistischen Beweggründen:
Wer unsere Unterstützung für einen Sieg haben möchte, darf nicht mit dem Kupfernen Drachen paktieren und muss so wie wir Alles tun, um einen Kupfernen Sieg zu verhindern. Auch ist es unabdingbar, dass wir nur die Drachen unterstützen können und werden, unter deren Herrschaft wir sicher sein können, dass wir unsere Freiheit und unseren Lebensstil ohne Einschränkungen weiter leben können. Denn es ist undenkbar einen Sieg zu unterstützen, der uns in Ketten legt.
Der dritte Beweggrund jedoch sollte die Gier sein. Was haben wir davon? Und mit „wir“ meine ich sowohl die Blaulageristen als auch den Blauen Drachen selbst. Nicht nur die Blaulageristen, bestenfalls bis zum letzten Halsabschneider und zur letzten Matrosin, sollten überzeugt sein sich für einen anderen Drachen zu engagieren – auch der Blaue Drache selbst sollte wissen, warum sich die Seinen für einen anderen Drachenweg die Sohlen durchlaufen, die Köpfe zermartern und töten lassen.
Uns in klingender Münze zu bezahlen, von denen dann die einzelne Person im Lager froh sein kann, wenn ein halbes Kupfer im eigenen Geldbeutel landet, befriedigt weder unsere Gier noch erschafft sie Begeisterung sich für ein anderes Lager einzusetzen. Denn unsere Gier ist nicht auf Gold und Geschmeide beschränkt und es gibt viele Wege Blaulageristen zu motivieren und für sich zu gewinnen. Eine Feier im Blauen Lager, ausgerichtet von einem anderen Lager, das unter anderem unsere Barden bezahlt, Tänzer und Tänzerinnen engagiert sowie für andere Kurzweil sorgt, wäre meiner Ansicht nach eine solche Möglichkeit.
Eine Entwicklung der letzten Jahre, die wir ganz bewusst getroffen haben und ich auch weiterhin befürworte ist, dass wir weder uns noch anderen mit irgendwelchen Zusagen, Verträgen und Abkommen, die das Jahr überdauern und in die Zukunft gerichtet sind, Ketten und Fesseln anlegen. Daher würden solche Angebote unsere Gier nicht befriedigen, eher sogar unser freiheitliches Wesen beleidigen.
Auch dem Blauen Drachen dürfte der Sinn weniger nach Gold, Münzen und Juwelen stehen, wenngleich ich das natürlich nicht mit Gewissheit sagen kann. Doch wenn ich ihm ein Angebot machen sollte, dann würde ich überlegen, ob man ihm bei einem Sieg nicht die Herrschaft über einen Teil der Stadt übergibt, wie zum Beispiel den Händlern und Tavernen. Eine Möglichkeit wäre auch, dass ein Drache für sich und sein Lager die Sklaverei ächtet sowie diese Ächtung in seinem Herrscherjahr für die gesamten Drachenlande inklusive aller Inseln gilt.
Generell ist die Ächtung der Sklaverei in anderen Lagern ein Thema, auf das wir als Lager der Freiheit in den kommenden Jahren einen stärkeren Fokus legen könnten. Sowohl was die Wahl unserer Verbündeten angeht als auch der Inhalt und das Ziel unserer diplomatischen Bemühungen. Letztendlich kann man sagen, dass es für die nächsten Jahre genug zu tun gibt – auch ohne sich für einen weiteren Sieg des Blauen Drachen anderen Lagern anzubiedern. Diese Zeit sollte nun zu Ende sein, wenn es nach mir geht.
So bleibt mir nur zu hoffen, dass – wenn der Blaue Drache uns noch einmal rufen sollte – das Lager bereit ist einen neuen Kurs zu setzen, um auf der Welle der Gier und mit dem stürmischen Wind der Freiheit in den Segeln unserer verloren geglaubten rauen Seele als Leitstern am Firmament folgend die Art von Respekt zu erlangen, die wir verdienen.“
Nach diesen Worten, die er in sein persönliches Logbuch geschrieben hat, legt Askir die Feder zur Seite und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Er nimmt das Glas in die Hand und trinkt von dem weißen Portwein, den er aus Yddland exportiert und auch unter seinen Freunden und Bekannten schon viele Liebhaber gewonnen hat. Über Haven Island beginnt die Dämmerung, während der Kapitän der „Kraken“ seinen Erinnerungen nachhängt …