„Rhys. Mein Name ist Rhys.“ Der alte Jast legte die Stirn in Falten und man vermochte zu sehen, dass er angestrengt in seinen Erinnerungen kramte. Dann entblößte ein Grinsen ein weiteres Mal seine Zahnstümpfe. „Doch nicht der Balg von der Metze Igraine, oder?“ Rhys, der kurz nach seinem überstürzten Aufbruch aus Havena den Namen „Askir“ angenommen hatte, lächelte. „Du scheinst Dich also an mich zu erinnern, Jast. Dann bin ich wohl doch noch nicht ganz vergessen.“ Der Alte zwinkerte ihm zu. „Wie könnte ich. Habe Keinen der Bande vergessen, die jede Woche im Krähennest den Selbstgebrannten abgeholt habt, damit der Taverne nix passiert. Das efferdseitige Orkendorf war Euer Gebiet.“ Rhys nickte langsam.
Alte Erinnerungen an die Bande von Straßenjungen, denen er einst angehört hatte, kehrten zurück, nachdem sie lange begraben waren. Als Kind überlebte man in der Gosse von Orkendorf nur, wenn man sich einer der vielen Banden anschloss, die sich bemühten durch Diebstahl, Raub und Schutzgelderpressung zu überleben. So hatte sich auch Rhys einer solchen Bande angeschlossen. Was ihm an Kraft gefehlt hat, hat er durch Köpfchen ausgeglichen und war schon bald ein wichtiges Mitglied der Bande geworden. Einer erfolgreichen Bande, die sich nach einem Fisch aus dem Meer der Sieben Winde, der als nutzlos und merkwürdig gilt, die „Knurrhähne“ genannt hatte. Schon nach einigen Jahren hatten sie einen Teil von Orkendorf unter ihre Kontrolle gebracht und es damit besser gehabt, als viele Andere, die in der Gosse leben mussten.
Doch bei der Anzahl der Straßenjungen und der Banden war (und ist) der Kampf ums Überleben auch immer ein Kampf gegeneinander. Lange konnten sich die „Knurrhähne“ gegen die anderen Banden behaupten. Doch irgendwann bildete sich in einem Teil der Fürstenstraße eine neue Bande, welche dort aber keinen Fuß fassen konnte und in das „Reich“ der „Knurrhähne“ eindrang. Diese konnten ihren Teil „Orkendorfs“ lange verteidigen, doch im Winter des Jahres 1012 oder 1013 BF stöberten die Feinde, welche sich „Fürstensöhne“ nannten, etliche Anführer von Rhys‘ Bande auf und stachen sie ab. Schon wenig später zerfielen die „Knurrhähne“ und es begann eine regelrechte Hetzjagd auf die Überlebenden.
Damals hatte Rhys sich entschlossen, dass es gesünder wäre die Stadt zu verlassen und war entlang des großen Flusses geflohen. Irgendwo an dessen Ufer war es auch, dass er ein einzelnes Grab entdeckte, auf dem auch der Name des (vermeintlich heldenhaften, aber) toten Inhabers zu lesen war: Askir. Er hatte diesen Namen angenommen und war seitdem nicht mehr nach Havena zurück gekehrt. Bis er vor einigen Wochen entschieden hatte hier „Urlaub“ zu machen – im Rückblick betrachtet eine seiner weniger glorreichen Ideen, wie er zugeben musste.
„Ich glaube ich brauche etwas zum Anziehen“, stellte Rhys lakonisch fest. Die Nacht wurde nicht wärmer und es fröstelte ihn. Der alte Jast nickte grinsend. „Dann mal viel Erfolg bei der Suche, Kumpel. Kennste ja: Hier hat Keiner was zu verschenken. Aber wenn Du was findest komm‘ doch morgen mal im Krähennest vorbei, bin da immer noch jeden Abend.“ Er blickte sich um und wurde der aufziehenden Morgendämmerung gewahr. „Ich mach‘ mich jetzt aber mal, sonst muss ich mir wieder das Geschrei meiner Alten antun.“ Langsam wandte Jast sich zum gehen. „Und vergiss nicht, Kumpel: Am Abend im Krähennest.“ Rhys blickte ihm hinterher, ohne was zu sagen. Der Alte verschwand hinter der nächsten Häuserecke und noch länger war das „TackTack“ seiner Krücke und seines Holzbeins zu vernehmen.
Im Schatten der Häuser, am Straßenrand haltend verließt auch Rhys den Ort, an dem er aus seiner Ohnmacht erwacht war. Es waren noch einige wenige Leute unterwegs, die aus den schlechten Kneipen oder schäbigen Bordellen des Viertels nach Hause zurück kehrten. Bald dürften aber auch schon Jene aufbrechen, die irgendwo einem mehr oder weniger ehrbaren Tagwerk nachgingen. Rhys musste sich beeilen, wenn er noch im Zwielicht der Dämmerung Kleidung organisieren wollte. Er wurde schon langsam nervös, als ihm ein betrunker Jüngling ins Auge fiel, der hinter einer Tonne seinen Rausch ausschlief und in etwa seine Größe hatte. Ein Besen, der an einem Hauseinang lehnte, diente Rhys als Waffe. Zur Sicherheit zog er ihn dem Betrunkenen über den Schädel.
Not kennt kein Gebot, dachte sich Rhys, als er den nunmehr Ohnmächtigen entkleidete. Die Klamotten stanken erbärmlich und waren sicher schon lange (wenn überhaupt jemals) gereinigt worden. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, wie viele Untermieter in den Stoffen aus Leinen und Wolle wohl wohnhaft sind. Schuhe hatte der Mann am Boden keine, doch zumindest trug Rhys nun eine Hose, ein Wams und eine kurze Jacke sowie eine Mütze. In Lumpen gekleidet, die vor Schmutz und Dreck eine ganz eigene Steifigkeit aufwiesen und nach Schweiss, Alkohol und Fäkalien stanken, setzte er seinen Weg fort. Zeitgleich durchwühlte er die Taschen und fand drei Kupfermünzen sowie ein kleines Messer. Nichts Besonderes und als Waffe nur sehr improvisiert zu benutzen, aber besser als Nichts.
Mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen dachte er an die letzte Nacht zurück, die er in den Armen einer Kurtisane auf dem Vergnügungsschiff Rhetis verbracht hatte. Nachdem ihm Phex, wie die letzten fünf Götterläufe, wieder einmal Glück gebracht hatte. Doch genau dieses Glück hatte ihn jetzt verlassen. Plötzlich. Wortwörtlich auf einen Schlag. Auch wenn er als „Humpen-Baron“ noch immer Anteile an mehreren Tavernen hielt, half ihm das hier in Orkendorf wenig. Was nutzte es ihm, wenn er nicht mal genug Geld hatte, um eine Passage nach Dargaras oder nach Daynon oder in eines der anderen Länder mit einer seiner Tavernen zu bezahlen? Nein, er war wieder ganz unten angelangt. Phex hatte ihn wohl verlassen. Seine Stirn legte sich ob dieses Gedankens in Furchen. Er blieb mit diesem Gedanken an einer Straßenecke stehen und blickte auf das Haus gegenüber, das ihm seltsam bekannt vorkam.