Ruckartig stand Rhys auf, um sich selber aus den Gedanken zu reißen. Doch diese ließen ihn nicht los und ihr Nachklang schien ihn auf etwas aufmerksam machen zu wollen, was er aber nicht verstand oder nicht zu sehen vermochte. Ärgerlich presste er die Lippen aufeinander. Es schien ihm, als sei in allem eine Botschaft versteckt. Als hätte es einen Sinn, den er einfach nicht begriff. Doch was für ein Sinn soll darin liegen seiner Habe beraubt in stinkenden und dreckigen Lumpen im erbärmlichsten Stadtviertel Havenas rumzustehen?
Erst das vernehmliche Knurren seines Magens vermochte Rhys aus seinen Gedanken heraus zu reißen. Zu lange schon hatte er Nichts mehr gegessen. Das gute Mahl auf der Rhetis schien eine Ewigkeit her zu sein. Als wäre das in einer anderen Welt oder seinen Träumen geschehen. Doch nur drei Kupfer nannte er sein Eigen. Schon lange war er nicht mehr so arm gewesen. Auch wenn er oft abgebrannt war, wenn er nach einer langen Seereise im Hafen seine Heuer bei den Wirten und Huren gelassen hatte – so war er doch dann wieder aufs Schiff zurück gekehrt, wo er Essen und Trinken bekam. Aber Trübsal blasen machte ihn auch nicht satt und er erinnerte sich an eine Bäckerei, an der in der Nacht vorbei gekommen war.
Mit dem – wenn auch bescheidenen – Plan im Rücken eilte er die Strassen entlang und suchte dabei den größeren Dreckhaufen auszuweichen. Bald schon erreichte er den kleinen Laden und trat ein. Der Ruß aus dem Ofen hatte die Wände und Decke und alle Flächen dunkel gefärbt. Der Geruch von frischem Brot stieg Rhys in die Nase und für ein Kupfer erstand er einen Laib. Bewusst machte er sich keine Gedanken über die schwarzen Einschlüsse im Brot und wie das Mehl seinen Weg hierhin gefunden hatte. Doch angesichts seines Hungers schmeckte das Brot, das er aß, während er die Straße weiter hinunter ging, köstlich.
Plötzlich weitete sich sein Blick. Ein großer Platz öffnete sich vor ihm und ging in den Uferanlagen auf. Dahinter waren die Masten etlicher Schiffe zu sehen. Der Gestank von Orkendorf wurde vom Wind, der den Geruch der See mitbrachte, hinfort geweht. Langsam und andächtigen Schrittes überquerte Rhys den Platz, bis er an der Uferkante stand und über das Wasser hinweg sah. Er betrachtete die vielen Schiffe, die Handelsgüter entluden oder einlagerten. Er blickte hinüber auf die Boroninsel (und ein leichtes Schauern lief über seinen Rücken). Rechts sah er den Zipfel von Krakeninsel, während zu seiner Linken Nalleshof lag. Sein Blick folgte einem Schiff, das mit geblähten Segeln der Ausfahrt des Seehafens zustrebte, um seine große Fahrt anzutreten.
Rhys blickte an seinen Füßen vorbei in das nasse Element, welches sich an der Kaimauer brach. Er atmete tief durch und füllte seine Lungen mit dem Geruch des Meeres, fühlte den Wind, der von der Ferne kündete. Ohne groß darüber nachzudenken griff er in seine Tasche und nahm einen der zwei verbliebenen Kupferstücke hinaus. Kurz wog er ihn in seiner Hand, bevor er die Münze in die kalten Fluten warf. Das Stück Metall verschwand unter der nächsten anrollenden Welle. Leise begann Rhys zu sprechen.
„EFFerd, Herrscher über Wind und Wogen, auf Deine Gunst bauen wir Menschen an der Küste und auf der See, besonders hier in Havena. Lass mich nicht umherirren auf der stürmischen See des Lebens, zeige mir den rechten Kurs und lass mich nicht auf den kantigen Riffen zerschellen. Gebe guten Wind auf meinen Fahrten, bewahre mich vor schlimmen Unwetter und behüte meine Seele. Du wühlst auf und glättest das Meer. Du machst das Unschiffbare schiffbar. Du löst die Gefesselten. Will darum fortan nicht vergessen zu danken und zu beten.“
Rhys stand und saß noch am Kai, als die Dämmerung herein brach.